Leserbrief von L. Wagenaar im Spiegel (Volltext)
Leserbrief von L Wagenaar, abgedruckt im Spiegel
Jerusalem, den 12. Juli 1967
Als Levi Schkolnik 1913 erstmals zum Sandschak Jerusalem kam [kommentar], lebten dort, im später wieder Palästina genannten Gebiet etwa 600 000 Araber, und nicht, wie Levi Eschkol heute wahrhaben will, nur 250 000. Die erste Volkszählung durch die britische Mandatsregierung (1922) ergab 668 258 Araber. Es ist auch nicht ganz zutreffend, daß „Israel nur 20 Prozent von Palästina darstellt.“ Die amtlichen Ziffern lügen nicht: Palästina 27 009 km2 (Commissioner for Lands and Surveys, Palestine Government) und Israel 20 700 km2 (Israelisches Landvermessungsamt, 1956). Ob das jüdische Volk nun 4 000 Jahre oder etwas weniger lang an der Klagemauer geklagt hat, mag sachlich unerheblich sein; das geschichtlich Richtige aber ist doch wohl, daß der Klagemauer trübsame Bedeutung wohl kaum älter ist als der Tempelbrand im Jahre 70. Die Behauptung, das jüdische Volk stamme aus dem Sinai, scheint dem Bibelkundigen etwas gewagt; jedenfalls ist der Sinai dem jüdischen Volk keineswegs geweihter Boden. Auch ist es frei erfunden, daß in Jerusalem (oder sonstwo in der Welt) jemals eine dem Heiligen Tempel nachgebildete Synagoge gestanden hat, denn ein solches Gebäude wäre religionsgesetzlich verboten. Womit nur einleitend gesagt werden soll, daß Eschkols historisches, geographisches, demographisches und religionsgesetzliches Wissen lückenhaft erscheint.
Ernsthafter aber ist, daß Israels Premierminister überhaupt kein historisches Verständnis aufbringen kann für die Begebenheiten dieser Sturmecke der Welt. Da sagt er: „Mit Libanon haben wir keine Konflikte gehabt, und warum Hussein sich im letzten Moment einspannen ließ, kann ich nicht verstehen… (ist) wirklich merkwürdig.“ Hat Herr Eschkol schon einmal darüber nachgedacht, daß die Zerstückelung des alten, historischen Syrien in Libanon, Rumpf-Syrien, Palästina und Jordan (wie auch Irak) eine ganz willkürliche ist? Daß in diesen Ländern nicht verschiedene Völker leben, sondern eine einzige, namentlich die arabische Nation? Daß diese politische Entgliederung von erdölhungrigen, machtgierigen Kolonialmächten vorgenommen wurde, ohne die autochthone Bevölkerung zu befragen, ja entgegen der ausdrücklichen Zusage an Husseins Urgroßvater, den Scherif und späteren König Hussein In ’Ah? Was ist da so unverständlich und merkwürdig, wenn der jetzige Hussein, der natürliche Monarch dieses ganzen Gebietes, alles daran setzt, die für das arabische Volk so verheerenden Folgen der für dieses Volk unverbindlichen Balfour-Erklärung zunichte zu machen? Kann da noch in gutem Glauben behauptet werden, der Libanon habe keinen Anteil am Konflikt, nicht etwa weil die Libanesen keine Araber sind, die genau so arabisch fühlen, denken und leben, sondern weil sie im wirtschaftlichen und politischen Boykott des bodenfremden Eindringlings einen genügenden Druck sehen? Mag Eschkol als Nutznießer des Balfour-Verbrechens anderer Meinung sein als die seinen Staat umgebende Araberwelt, aber es ist zumindest tragisch, wenn ihm das historische Verständnis dafür abgeht, daß auch seine Widersacher auf ein Recht zu pochen vermögen; es ist erschütternd, daß sein Verständnis eine Einbahnstraße ist, wodurch er den König Hussein und was dieser repräsentiert und beinhaltet überhaupt nicht versteht. Es ist wohl so, daß er sich so tief in seiner Stellung, wonach „die zionistische Bewegung überhaupt auf moralischen Grundlagen aufgebaut“ sei, vergraben hat, daß er nicht mehr über den Rand seines Fuchsbaues hinauszuschauen vermag.
Aus dieser Einstellung heraus, von diesem Befehlsstand her kann Herr Eschkol dann sagen: „Es gibt noch 100 000 Juden in Ländern der Not, und für die ist Israel die einzige Lösung“ (was gar nicht wahr ist, denn nicht die Juden suchen Israel sondern Israel sucht Juden). Oder: „Wir haben auch aus dem Irak 1500,00 Juden aufgenommen, die von der irakischen Regierung vertrieben wurden“ (was auch nicht wahr ist). Die Regierungen der islamischen Welt haben niemals Juden vertrieben. Judenvertreibungen sind das Monopol allerchristlichster Länder mit ihrer fast zweitausendjährigen Tradition der Nächstenliebe. Zionistische Emissäre sind in allen Ecken der Welt tätig, Juden nach Israel zu locken (und das ist der Grund, warum diese Aufgabe nicht von der Israelregierung, sondern von der nichtamtlichen zionistischen Bewegung, namentlich der Jewish Agency, betrieben wird). Israel mußte in kürzester Zeit bevölkert werden. Daher ist auch jeder der (bis jetzt) 200 000 Auswanderer ein Deserteur und Verräter der „nationalen“, besser nationalistischen Sache. Wie disponiert Herr Eschkol? „Wir haben in Europa noch eineinhalb Millionen Juden.“ Das heißt: es ist genug Platz vorhanden für die über eine Million bodenständigen Flüchtlinge, aber um deren Rückkehr unmöglich zu machen, weil sie rassisch minderwertig sind oder sonstwie nichts taugen, sollen „junge Leute, Burschen, Mädchen, Studenten aus den wohlhabenden Ländern, aus den Vereinigten Staaten, aus Südamerika und aus Europa“ importiert werden. Und nebenbei sollen die in den Gazastreifen geflüchteten arabischen Erbbauern, „diese Leute“, eine Viertelmillion Entrechteten, „resozialisiert“ werden. Ich weiß gar nicht, ob es wirklich so unverständlich und so merkwürdig ist, wenn König Hussein, die Araber überhaupt und die Palästinaflüchtlinge insbesondere, der zionistischen Bewegung die so im Bausch und Bogen vorweggenommenen moralischen Grundlagen anzweifeln.
Besonders die Flüchtlinge. Wie sagt Herr Eschkol? „Es gibt Raum für sie. Sie könnten ihre Häuser haben, ihre Wohnungen.“ Wirklich? I h r e Häuser (die rechtswidrig längst für Spottpreise vom Verwalter für Vermögen Abwesender verschachert sind [kommentar]), ihre ererbten Felder und Flure? Liegen diese doch in und um Lydda, Ramle, Jaffa, Jerusalem, Acco, Haifa, Bersebah, Askalon, Asdod usw. Herr Eschkol meint wohl: wir würden sie ansiedeln in „unserer“ Ostzone („die uns ja noch nicht gehört“), das heißt, sie dürfen ihren altangestammten Besitz nicht zurückverlangen, diese verbrecherischen „Schukeri-Leute und verkappten Legionäre“ (aber der Wehrmachts-Pauls ist als Botschafter koscher). Sie mögen dann in einer Art General-Gouvernement, einem demilitarisierten Protektorat, Quislingsdienste leisten, denn was bräuchten sie Militär, wenn wirklich Frieden sein soil? Nur Israel soll noch eine Armee haben.
Ich habe etwas zu lang in Auschwitz gelitten, um menschliches Leid gleichgültig hinnehmen zu können, besonders wenn auf Volkszugehörigkeit fußend differenziert wird: Vertreibung, Aussiedlung, Enteignung, Pariasierung, Zwangsansiedlung, Kollaborationsnot, Entehrung, Pauperisation, Zwangstausch guter Valuta, Berufsausschluß, Deklassierung und mehr.
Daß ein Teil der Araber den Kardinalfehler macht, mit Liquidation der Juden zu drohen, wenn er doch nichts als die Liquidation der nicht-arabischen Politeia auf arabischem Boden bezweckt, ist tief bedauerlich, aber im Lichte der von uns vom Zaun gebrochenen Flüchtlingsmisere nicht ganz unverständlich. Dieser Fehler schadet den Arabern auf allen Fronten, denn er wirkt wie die alliierte Proklamation von „bedingungsloser Kapitulation“. Frieden aber werden und können die Araber mit Herzls Judenstaat (so drücke ich mich absichtlich aus, denn Israel ist kein jüdischer Staat) niemals machen; er wäre national ehrlos. Dagegen wäre ein aufgeklärter Monarch wie Hussein durchaus vorstellbar als Staatsoberhaupt eines sich auf das gesamte historische Syrien (siehe oben) erstreckenden Reiches, wie es seinem Urgroßvater vorgeschwebt hatte und auch zugesagt worden war. In einem solchen Staat wäre Platz für die arabischen Christen des Libanon, Bethlehems, Jerusalems, Nazareths und Damaskus’, auch für die Drusen und für die Juden im Küstenland (jetziges Israel), die sich darauf zu besinnen hätten, daß sie letzten Endes ein Orientvolk sind und es sein müssen, wenn sie es sein wollen, zusammen mit den Juden in Beirut, Damaskus und Aleppo. Alle würden friedlich leben neben der mohammedanischen Mehrheit. Interne, besonders religiöse Angelegenheiten könnten im Rahmen dieses arabischen Staatsgebildes autonom gehandhabt werden. Namentlich die Juden würden in einem solchen Staate genauso treue Staatsbürger sein wie sie es heute etwa in Amerika, England, Holland, Marokko, Iran, Irak und Libanon sind. Eine solche friedliche Lösung wäre ehrenvoll für die monotheistischen Nationen, die alle ihre Belange im Heiligen Lande haben. Bis dahin ist es eine historische Tragödie, daß das jüdische Volk sich aufs Messer verfeindet hat mit dem einzigen Teil der Kulturwelt, der es nicht seit zwei Millennien gehaßt, erniedrigt und verfolgt hat.
Das sollte einmal gesagt sein.
L. Wagenaar