Mathematische Letalität
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Globalisierungskritik: Mathematische Letalität
Der Hunger, die Börsen, die Gewalt: Jean Ziegler sprach in Berlin
Junge Welt, 17 Okt 2014
Das tägliche Massaker des Hungers schützt den Planeten vor Überbevölkerung. Diese Aussage des britischen Ökonomen Thomas Malthus ist für den Schweizer Soziologen Jean Ziegler ein menschenverachtendes, verwerfliches Diktum.
Jakob Augstein, seines Zeichens Spiegel-Erbe, Besitzer des Freitag und in beiden Medien Kolumnist, hatte Ziegler am Mittwoch ins Berliner Maxim Gorki eingeladen, in den »Freitag Salon«, den er dort allmonatlich veranstaltet. Der achtzigjährige Ziegler hat einen legendären Ruf. Er war Wegbegleiter von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, »Lenkradkumpel« von Che Guevara und ist Duz-Freund von Fidel Castro. Ausserdem langjähriger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Sach- und Romanautor, Globalisierungskritiker und Gastprofessor an der Sorbonne.
Das Gorki Theater war ausverkauft. Im nahen Regierungsviertel herrschte der Mobilitätsbreakdown. Lokführer streikten. Züge fielen aus. Endlose Schlangen erdölbetriebener Blechkutschen krochen zäh über den Asphalt. Durch das Herz der Hauptstadt. Durch das Regierungsviertel. Durch das System.
Ein ruhiger, entspannt wirkender Augstein begrüßte den stets herzerfrischend impulsiven Ziegler. Die Chemie stimmte. Augstein: »Sie sagten mir bereits vorab: Sie vertreten hier ihre eigene Meinung und nicht die der UNO. Sie sind ein Antikapitalist?« Ziegler: »Ja, ich bin ein Antikapitalist…. Ich bezeichne mich als einen Citoyen. …Wir befinden uns in einer zynischen Ära. Wir haben eine absurde Weltordnung. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. 57.000 Menschen am Tag. Und das obwohl die weltweite Landwirtschaft 12 Milliarden Menschen ernähren kann.«
Er berichtete von seinen Erlebnissen als UN-Sonderberichterstatter im Jahr 2000 in Zentralguatemala: »Ich verteilte wie ein Idiot meine Visitenkarten.« Für Ziegler ist Hunger ein organisiertes Verbrechen: »Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.«
Vom Hunger kam man schnell auf die globale Struktur, auf die Vermögensverhältnisse und Machtverteilung, die Wiederkehr des Feudalismus. Für Ziegler ist die Spekulation mit Grundnahrungsmitteln »das traurige Sinnbild der kapitalistischen Ordnung«.Für zwingend erforderlich hält er die sofortige Entschuldung der Entwicklungsländer und grundlegende Agrarreformen. Ziegler nennt die gegenwärtige Katastrophenwirtschaft den »Dritten Weltkrieg«. Dieser ist leise, latent und hoch effizient. Mathematische Letalität: Rechenoperationen innerhalb weniger tausendstel Sekunden an den weltweiten Finanzplätzen ausgeführt, besitzen die sprichwörtliche Feuerkraft milliardenschwerer Boni.
Für Ziegler ist Reichtum eine unterlassene Hilfeleistung. Sein Credo: »Bruder, es gibt keinen Weg. Deine Füße machen ihn selber.« Er will die Hoffnung nicht aufgeben. Er will Hoffnung sozusagen schenken. Der Politik der Privatisierung, der transnationalen Konzerne und der »Global stateless Gouvernance« sagt er den Kampf an. »Der moralische Imperativ, der Widerstand gegen das herrschende System rückt immer mehr in das Bewusstsein der Menschen«, glaubt er. »Die Herren der Welt müssen weg. Und das wird es nicht ohne Gewalt geben.« Jean Ziegler ist sich sicher: »Die Revolution wird kommen. Und es wird gut werden.«