Mutige Israelin: Shulamit Aloni
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03.06.2010 / Schwerpunkt / Seite 3
»Ein Schandfleck in der Geschichte meines Landes«
Israels Angriff auf Gaza-Hilfsschiffe muß vor internationalem Gericht geahndet werden. Ein Gespräch mit Shulamit Aloni
Interview: Raoul RigaultShulamit Aloni (81) ist Schriftstellerin, Mitbegründerin der israelischen Friedensgruppe »Peace Now«, Trägerin des Israel-Preises und ehemalige Erziehungsministerin. Von 1965 bis 1996 war sie Knessetabgeordnete, erst der Arbeitspartei und dann der linkszionistischen RaZ bzw. Meretz
Wie beurteilen Sie die Kaperung der Free-Gaza-Hilfsflotte durch israelische Eliteeinheiten?
Für das Geschehene gibt es nur ein Wort: Massaker. Als Israelin rebelliere ich gegen diesen blutigen Akt, für den es keine Rechtfertigung geben kann. Was da passiert ist, ist das Ergebnis einer Dämonisierungskampagne, die von jenen organisiert wurde, die Israel heute regieren. Derjenige, der angeordnet hat, die Friedensschiffe, die auf dem Weg nach Gaza waren, unter allen Umständen zu stoppen, hat unseren Soldaten den Schießbefehl erteilt. Deshalb sollte er von internationalen Gerichten verfolgt werden.
Tel Aviv behauptet, auf den Schiffen Waffen gefunden zu haben. Glauben Sie das?
Diese Schiffe transportierten keine Waffen, sondern Hilfsgüter für eine Bevölkerung, die im Gazastreifen seit Jahren einer kollektiven Bestrafung unterzogen wird, welche allen Normen des internationalen Rechts und den Menschenrechten widerspricht. Mit diesem Massaker hat mein Land, für das ich gekämpft habe, seine schlechteste Seite gezeigt. Die Seite der Arroganz und der unverhältnismäßigen Gewaltanwendung. Das ist ein Blutfleck, der bleiben wird. Um ihn zu beseitigen, wird die internationale Verurteilung nicht ausreichen. Es ist nötig, daß sich sofort aus der israelischen Gesellschaft heraus selbst Proteststimmen erheben. Notwendig ist eine moralische Revolte gegen jene, die nicht nur ein Attentat auf den Frieden im Mittleren Osten verüben, sondern auch die Fundamente unserer Demokratie untergraben. Weil ein Land, das Massaker wie dieses rechtfertigt, ein Land ist, das sich selbst zu einem üblen Ende verurteilt.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak behaupten, Ziel der Organisatoren der Solidaritätsschiffe sei nicht gewesen, humanitäre Hilfe nach Gaza zu bringen, sondern eine »gezielte Provoka tion« gegen Israel zu begehen.
Das sind unerhörte Worte von Leuten, die zu verteidigen versuchen, was nicht zu verteidigen ist. Solch ein Verhalten an den Tag zu legen, wird die Wut und Empörung über das begangene Massaker weltweit nur noch steigern. Nichts kann die Tatsache rechtfertigen, daß die Brücke eines Schiffes in ein Schlachtfeld verwandelt wurde. Wer den Befehl zu diesem Einsatz gegeben und zuvor eine Verteufelungskampagne gegen jene Pazifisten gestartet hat, wollte eine Lektion erteilen. Die Ergebnisse liegen jetzt allen vor Augen. Das vergossene Blut ist ein nicht zu löschender Schandfleck in der Geschichte meines Landes.
In der Türkei gab es einen regelrechten Wutausbruch gegen Israel …
… nicht nur in der Türkei. Dieses Gemetzel wird den Haß gegen Israel nähren, die fundamentalistischen Gruppen stärken und die Kräfte in der arabischen Welt und unter den Palästinensern schwächen, die weiterhin an den Dialog glauben und für einen gerechten Frieden unter Gleichen kämpfen. Aber die Falken, die Israel heute regieren, tun alles, um jeden Dialog abzuwürgen. Das jetzige Blutbad zielt in diese Richtung.
Mit dieser Aktion gerät auch die Abriegelung des Gazastreifens wieder ins Rampenlicht. Ist Israel mit der Blockade seinem Ziel näher gekommen, die Hamas nachhaltig zu schwächen?
Nein, die Blockade hat die Hamas genauso wenig geschwächt wie die Tötung vieler ihrer Führer. Sie hat nur das Leiden der Bevölkerung verstärkt und Gaza in ein riesiges Gefängnis unter freiem Himmel verwandelt. Wer Schiffe angreift, ein anderes Volk unterdrückt und die Kolonisierung der besetzten palästinensischen Gebiete fortsetzt, pflegt die Illusion, daß sich Israels Sicherheit auf Waffengewalt stützen könne. Das ist jedoch eine Illusion, die immer wieder zu Desastern führen wird, wenn die Welt nicht entschieden dagegen protestiert. Dem muß sich der Teil Israels anschließen, der nicht zum Komplizen dieses Verbrechens werden will.
Die arabische Gemeinde in Israel geht bereits auf die Straße …
Ja, und da sprechen wir von einer Million Israelis, die der Rassist [und Außenminister, jW] Avigdor Lieberman als »Abschaum« betrachtet, die man – wenn es nach ihm ginge – gewaltsam in die besetzten Gebiete vertreiben sollte. Und Leute wie er haben die Zukunft Israels und des Friedens in der Hand. Das ist der reinste Horror!