Politischer Mordanschlag ist nicht gleich politischer Mordanschlag
Internationale Untersuchung
Junge Welt, 13. März 2015
Politischer Mordanschlag ist nicht gleich politischer Mordanschlag, zweifelhafte Ermittlungen sind nicht gleich zweifelhafte Ermittlungen: Das Europaparlament hat eine »unabhängige internationale Untersuchung« der Todesschüsse auf den früheren russischen Vizepremier Boris Nemzow in Moskau gefordert. Dazu könnten die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Europarat und die Vereinten Nationen beitragen, hieß es in einer Entschließung der Abgeordneten am Donnerstag. Weiter machten die Parlamentarier »systematische Verstöße« gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit in Russland aus. Grundsätze für faire Gerichtsverfahren und die Unabhängigkeit der Justiz würden von der Staatsführung missachtet. Der 55jährige Nemzow war am 27. Februar auf einer Brücke im Zentrum der russischen Hauptstadt hinterrücks erschossen worden. Medien und Politiker in der EU machten umgehend den Kreml für den Mord an dem Kreml-Kritiker verantwortlich – so wie bei Terroranschlägen in der Vergangenheit grundsätzlich eine Beteiligung des russischen Geheimdienstes unterstellt wurde.
Die Verwicklung von deutschen Geheimdiensten in politisch motivierte Morde wird dagegen als »Verschwörungstheorie« abgetan. Die rechte Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) wird für eine Mordserie an Migranten in den Jahren 2000 bis 2006, mehrere Sprengstoffanschläge sowie den Polizistenmord von Heilbronn im Jahr 2007 verantwortlich gemacht. Auf Anweisung staatlicher Stellen wurden gezielt Akten vernichtet, die eine Verwicklung von Geheimdiensten in die Terrorserie belegen könnten. Ein früherer Landesinnenminister hält schützend seine Hand über einen früheren Verfassungsschutzmitarbeiter, der an einem der Tatorte zur Tatzeit zugegen war. Ein Staatsanwalt bringt binnen Stunden das Todesermittlungsverfahren im Fall eines im Auto verbrannten Neonaziaussteigers zum Ende und legt sich auf »Suizid« fest …
Mindestens zehn Menschen haben die NSU-Terroristen ermordet: Enver Şimşek (9. September 2000 in Nürnberg), Abdurrahim Özüdoğru (13. Juni 2001 in Nürnberg), Süleyman Taşköprü (27. Juni 2001 in Hamburg), Habil Kılıç (29. August 2001 in München), Mehmet Turgut (25. Februar 2004 in Rostock), İsmail Yaşar (9. Juni 2005 in Nürnberg), Theodoros Boulgarides (15. Juni 2005 in München), Mehmet Kubaşık (4. April 2006 in Dortmund) und Halit Yozgat (6. April 2006 in Kassel) sowie Michèle Kiesewetter (25. April 2007 in Heilbronn).
Die Abgeordneten des Europaparlaments sind in den vergangenen Jahren nicht einmal auf die Idee gekommen, in diesen Fällen eine »unabhängige internationale Untersuchung« zu fordern. Die Tatorte waren zu weit weg vom Kreml.