Rechtsnihilismus und Dämonisierung der russischen Politik
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Junge Welt, 08.03.2014
Der Schwarze Kanal: Überzeugter Europäer
Von Arnold Schölzel
In der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom Freitag beklagt Jörg Himmelreich »Die Handlungsohnmacht des Westens«. Der Mann ist vom Fach: In den 90er Jahren Banker in Moskau und London, dann im Planungsstab des Auswärtigen Amtes, heute mit Lehrauftrag an der privaten Jacobs University in Bremen tätig. Zur Zeit steht er im Wahlkampf: Er ist unter dem Motto »Geben Sie Europa eine neue Zukunft!« Kandidat der »Alternative für Deutschland« (AfD) für die Europawahlen. Auf der AfD-Webseite stellt er sich als »überzeugter Europäer« mit dem Satz vor: »Ich bin für den Frieden in Europa und zwischen seinen einzelnen Staaten. Deswegen bin ich gegen den Euro: Er spaltet Europa!«
In der NZZ zählt er Rußland nicht zum Kontinent, denn dem will er höchst unfriedlich entgegentreten: »Vor hundert Jahren brach der Erste Weltkrieg aus, weil alle europäischen Staaten nur militärische Lösungen für den Balkankrieg verfolgten. Heute bleibt Europa auf der Zuschauertribüne. Ob das Frieden und Freiheit in Europa wahrt, ist die Frage. Putin dürfte sich nach seiner Wiederwahl 2018 noch weitere zehn Jahre im Amt halten – eine kleine Ewigkeit. ›Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor‹, hieß es einst bei den Römern. Das ist leider auch nach 2000 Jahren für Europa wieder eine Handlungsempfehlung von erschreckender Aktualität.« Für Himmelreich ist der Kriegsvorbereitungsanlaß eine von ihm halluzinierte »russische Invasion in die Ukraine«.
Die Phantasie, Moskau habe das Völkerrecht gebrochen, findet sich auch in Stellungnahmen von Linken und der Friedensbewegung zur Krise. Als reihenweise Minister und Politiker aus NATO-Ländern in Kiew einflogen, um die längst bewaffneten Demonstranten gegen die Regierung von Wiktor Janukowitsch zu unterstützen, hörte man von dort keine Klagen wegen Einmischung in innere Angelegenheiten oder Verletzung der ukrainischen Souveränität, von der EU-Erpressungspolitik – wir oder die – zu schweigen. Offenbar wird als Gewohnheitsrecht des Westens wahrgenommen, was vor 24 Jahren mit Helmut Kohls Wahlkampf im Frühjahr 1990 in der DDR begann. Grundlage war nicht das Völkerrecht, sondern dessen Mißachtung. Der Bruch dieser internationalen Übereinkommen mit Waffengewalt ist spätestens seit der Selbstmandatierung der NATO zum Angriffskrieg auf Jugoslawien 1999 Basis westlicher Politik. Festgeschrieben wurde der Rechtsnihilismus dieser Ära in der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA 2002, in der das Recht darauf, »to act preemptively«, d.h. ohne einen erkennbaren Anlaß militärisch zu handeln, verkündet wurde. Die bevorzugte Kriegführung des gegenwärtigen US-Präsidenten per ferngelenkter Drohne bestätigt diesen zivilisatorischen Bruch auf seine Weise.
Himmelreichs Phantasien von einem Krieg, der bereits im Gang ist, gründen sich aber nicht auf diese vor aller Augen stattfindenden Aktionen. Sie sind eine Reaktion auf ein Dilemma, in das die imperiale Neuordnungspolitik des Westens durch die komplette Negation des Völkerrechts geraten ist. Kriege gegen Somalia oder Afghanistan, gegen Irak oder Libyen, Mali oder Zentralfrika ließen sich fast im Handumdrehen bewerkstelligen, zum Teil fanden sie mit russischer Zustimmung oder Duldung statt. Aber wieder einmal, läßt sich nach zwei verlorenen Weltkriegen des deutschen Imperialismus sagen, rechnete man nicht mit einem Hauptgegner. Der ist gegenwärtig Rußland. In dessen Position könnten auch China, Indien oder Brasilien rasch geraten. Ein militärischer Einsatz gegen einen dieser Staaten, erst recht gegen Rußland, riefe unmittelbar die Gefahr eines Nuklearkrieges hervor. Vor dieser Konsequenz schrecken die Weltordnungskrieger noch zurück. Einem »Europäer« wie Himmelreich – der die dritte oder vierte Reihe des politischen Establishments repräsentiert – kann das egal sein.
Die Dämonisierung der russischen Politik und des einen russischen Politikers, den die westliche Meinungseinfalt noch wahrnimmt, gehört zum Propagandageschäft. Himmelreich läßt das in der NZZ nicht weg: »Putin verbindet die Fähigkeit des ausgebildeten KGB-Agenten, die Macht und die Autorität seines Gegenübers und eines Staates messerscharf zu analysieren, mit den Gesetzen der brutalen Gewalt in den Petersburger Hinterhöfen, in denen er groß wurde: Der Starke nimmt sich, was er braucht, der Schwache muß geben.« Himmelreich baut sich seine Putinpuppe nach der sozialdarwinistischen Vulgärsoziologie, von der die Publizistik des Mainstreams geprägt wird. Aber er spricht aus, was andere sich nicht trauen: Die Politik des Westens läuft konsequent auf Kriegsvorbereitung hinaus. Jene Linken, die Ursache und Wirkung in der Krise umkehren – westliche Einmischung und russische Reaktion – folgen längst dieser Logik.