Reißwolf des Rechtsstaats
05.01.2013 / Inland / Seite 4
Reißwolf des Rechtsstaats
Jahresrückblick. Nach Aufdeckung der NSU-Mordserie tat der Inlandsgeheimdienst alles, um die Rolle seiner V-Leute in der braunen Szene zu verschleiern
Von Claudia Wangerin
Als sich vor gut einem Jahr die Meldungen über den »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) überschlugen und Massenmedien den Begriff »Dönermorde« so langsam als Unwort erkannten, kursierte in den Redaktionsräumen dieser Zeitung eine Verschwörungstheorie: »Beim Verfassungsschutz werden jetzt sicher die Akten durch den Reißwolf gejagt«. Natürlich wäre es zu diesem Zeitpunkt – ohne Beweise – nicht seriös gewesen, so etwas zu schreiben.
Daß der Führungskader der NSU-Brutstätte »Thüringer Heimatschutz« (THS), Tino Brandt, schon gut zehn Jahre zuvor als V-Mann enttarnt worden war, konnte nur als Indiz dafür gelten, daß der Inlandsgeheimdienst nicht nur aus Quellenschutzgründen viel zu verbergen hatte.
Im Juni konnte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) dem Untersuchungsausschuß des Bundestags nicht mehr verheimlichen, daß es da noch etwas gab – wohl aber, was es genau war. Ein Referatsleiter des BfV hatte am 11. November 2011 – exakt eine Woche nach Enttarnung des NSU durch den mutmaßlichen Selbstmord seiner Gründungsmitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – mindestens vier Akten aus der »Operation Rennsteig« vernichtet, in deren Rahmen mehrere THS-Mitglieder als V-Leute geführt worden waren. Zunächst sollten es neben Tino Brandt mindestens elf weitere gewesen sein. Mitglieder der Untersuchungsausschüsse in Sachsen, Thüringen, Bayern und dem Bund fragen sich inzwischen, ob wenigstens das mutmaßliche Kerntrio des NSU frei von V-Leuten war. Die Hauptbeschuldigte Beate Zschäpe, die sich am 8. November 2011 der Polizei stellte, nachdem sie die gemeinsame Wohnung in Zwickau angezündet hatte, um Spuren zu vernichten, schweigt in Untersuchungshaft. Laut Anklageschrift nahm die Frau des Trios eine gleichberechtigte Rolle bei der Planung von Anschlägen, Morden und Raubüberfällen der terroristischen Vereinigung ein – auch wenn sie im Gegensatz zu Mundlos und Böhnhardt nicht selbst geschossen haben soll.
Geheimdienstbiotop
Die drei Neonazis aus Jena, denen nun zehn Morde und zwei Sprengstoffanschläge mit über 20 Verletzten zuzuordnen sind, hatten sich vor ihrem Untertauchen 1998 ausgerechnet im THS radikalisiert, der Dank »Operation Rennsteig« ein Tummelplatz mehrerer Geheimdienste war. Neben dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und den Landesämtern von Thüringen und Bayern war auch der Militärische Abschirmdienst (MAD) mit im Boot. Im September mußte die Zahl ihrer »Vertrauenspersonen« im THS nach oben korrigiert werden: Nach Sichtung weiterer Akten ergaben Berechnungen der Untersuchungsausschüsse in Thüringen und dem Bund, daß insgesamt rund 40 THS-Mitglieder im Sold von Nachrichtendiensten gestanden hätten – bei einer Gesamtmitgliederzahl von rund 140 wäre das mehr als jeder vierte Aktivist der braunen Truppe.
Nach dem Fund der Ceska-Pistole, die Ende 2011 als Tatwaffe der Mordserie an neun Kleinunternehmern türkischer, kurdischer und griechischer Herkunft identifiziert wurde, sowie der Pistole einer ermordeten Polizistin im NSU-Nachlaß brauchte das Bundesinnenministerium (BMI) über ein halbes Jahr, um die Aktenschredderei durch einen klaren Erlaß zu stoppen. Im Oktober gelangten Teile eines Geheimberichts des BMI-Sonderermittlers Hans-Georg Engelke über das Ausmaß der Aktenvernichtung im BfV an die Öffentlichkeit. Über 300 Akten aus dem Bereich Rechtsextremismus waren demnach zwischen dem Bekanntwerden des NSU und dem Erlaß im Juli 2012 vernichtet worden – davon 26 mit Material aus Abhör- und Überwachungsmaßnahmen. Zur Begründung für das lange Zögern vor dem Erlaß hob der zuständige Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen hervor – obwohl die Speicherfristen der von November bis Juli vernichteten Akten zum Teil schon längere Zeit abgelaufen waren. Fritsche, der eine Vertuschungsabsicht bestritt und es für richtig hält, dem Ausschuß die Klarnamen von V-Leuten zu verschweigen, war ausgerechnet von 1996 bis 2005 selbst Vizechef des BfV. Bei der Vernehmung des Sonderermittlers Engelke im Untersuchungsausschuß zeigte sich bei der Frage nach der möglichen Rekonstruierbarkeit gelöschter Akten, daß man es beim BfV mit dem Datenschutz sonst nicht so genau nimmt: Informationen, die in der Abteilung Beschaffung gelöscht wurden, könnten in der Auswertung noch existieren, so Engelke. Außerdem könne eine interne Kontrollgruppe Daten über V-Leute speichern. Die Frage, warum die betreffenden Akten dann nicht rekonstruierbar seien, wollte Engelke in öffentlicher Sitzung nicht klar beantworten.
Und das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz, dessen Chef Helmut Roewer zwei Jahre nach dem Untertauchen des NSU-Trios über einen V-Mann-Skandal gestolpert war? Vor dieser Behörde grauste es dem eigenen Innenminister Jörg Geibert (CDU) so, daß er 80 Bereitschaftspolizisten in die Erfurter Geheimdienstzentrale schickte, um ungeschwärzte Akten für den Untersuchungsausschuß sicherzustellen.
Personelle Konsequenzen
Fünf Geheimdienstchefs aus Bund und Ländern stolperten 2012 über den NSU-Skandal: BfV-Chef Heinz Fromm trat in den vorzeitigen Ruhestand, die Chefs der Landesämter von Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt nahmen ebenfalls ihren Hut. Im November mußte Berlins oberste Verfassungsschützerin Claudia Schmid eine ungesetzliche Aktenvernichtung in Sachen »Blood&Honour« einräumen – und bat kurz darauf um ihre Versetzung. Ein früherer »Blood&Honour«-Funktionär, der dem NSU Sprengstoff besorgt hatte, war zuvor als V-Mann des Berliner Landeskriminalamtes geoutet worden.
Statt bloßer Personalrochaden fordern Oppositionspolitiker wie die Innenexperten der Linksfraktion im Bundestag, Jan Korte und Ulla Jelpke, die Auflösung des Verfassungsschutzes.
Im Landtag von Bayern, dem Bundesland, in dem fünf von zehn NSU-Mordopfern starben, hat die parlamentarische Untersuchung erst am 4. Juli – kurz vor der Sommerpause – begonnen. Ein Verfassungsschützer a.D. erklärte dort im Oktober, er habe Polizeibeamten Vorträge über Rechtsextremismus gehalten – Organisationsnamen wie »Blood&Honour« sagten ihm jedoch nichts. In der bayerischen Landeshauptstadt München soll auch Beate Zschäpe und vier mutmaßlichen NSU-Helfern ab April der Prozeß gemacht werden. Keiner der Angeklagten stammt aus Bayern – der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses im schwarz-gelb regierten Freistaat, Franz Schindler (SPD), ist jedoch überzeugt, daß es auch bayerische NSU-Unterstützer gab.
Bisher gibt es keine Untersuchungsausschüsse in Hessen, wo 2006 der hauptamtliche Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme zum Zeitpunkt des Kasseler NSU-Mordes an Halit Yozgat am Tatort war, oder in Baden-Württemberg, wo sich im Kollegenkreis der toten Polizistin Michéle Kiesewetter Verbindungen zum rassistischen Ku-Klux-Klan ergaben.