Ronen Bergman: Der Schattenkrieg. Israel und die geheimen Tötungskommandos des Mossad
Ronen Bergman: Der Schattenkrieg. Israel und die geheimen Tötungskommandos des Mossad
Deutsche Verlags-Anstalt; 864 Seiten; 36 Euro.
DER SPIEGEL 2018/4
„Sie arrangieren Treffen mit Gott“
Der Experte Ronen Bergman im SPIEGEL-Gespräch über die Morde des Mossad – und dessen 3000 Opfer
Bergman, 45, ist Chefkorrespondent für Militär- und Geheimdienstthemen bei der israelischen Tageszeitung „Yedioth Ahronoth“. Er studierte Jura, arbeitete für den israelischen Generalstaatsanwalt und promovierte in Geschichte an der Universität Cambridge mit einer Arbeit über den Mossad.
SPIEGEL: Herr Bergman, in Ihrem Buch über die israelischen Geheimdienste beschreiben Sie deren gezielte Tötungsaktionen über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren. Wie viele Menschen wurden umgebracht?
Bergman: Alles in allem reden wir über mindestens 3000, darunter nicht nur die Zielpersonen, sondern auch viele Unschuldige, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Allein während der zweiten Intifada gab es Tage, an denen in der Befehlszentrale vier bis fünf „gezielte Tötungen“ angeordnet wurden, in der Regel gegen Hamas-Aktivisten.
SPIEGEL: Wie kam Israel dazu, politische Konflikte auf diese blutige und rechtlich umstrittene Weise lösen zu wollen?
Bergman: Einige der frühen Zionisten waren desillusionierte Revolutionäre aus Russland. Sie hatten das Konzept der politischen Morde aus ihrer Heimat mitgebracht und gründeten 1907 die erste bewaffnete zionistische Einheit in Jaffa. Ein anderes Motiv war natürlich der Holocaust. Die Lehre daraus war, dass wir ein eigenes Land als Schutzraum für Juden brauchen und dieses Land gegen zahlreiche Feinde verteidigen müssen – mit allen Mitteln. Und jeder dieser Feinde wurde mit Hitler gleichgesetzt: Nasser, Arafat, Saddam Hussein, Ahmadinejad. Gegen solche Leute galt es als legitim, sich über alle internationalen Normen und Gesetze zu stellen. Das ist die Geisteshaltung, bis heute.
SPIEGEL: Warum aber diese Fokussierung auf gezielte Tötungen?
Bergman: Für Israels Staatsgründer David Ben-Gurion war Krieg das allerletzte Mittel, eine Dauermobilisierung der Streitkräfte konnte sich das junge, kleine Land nicht leisten. Um Kriege zu verhindern oder herauszuzögern, baute er von Juni 1948 an, also weniger als einen Monat nachdem Israel seine Unabhängigkeit erklärt hatte, machtvolle Geheimdienste auf. Sie sollten vor drohenden Kriegen warnen, Informationen über das feindliche Militär beschaffen und durch geheime Kommandooperationen weit hinter den feindlichen Linien das Kriegsrisiko mindern – durch Sabotage und eben durch das Töten zentraler Akteure. Jeder, der jüdisches Blut an den Händen hatte, sollte wissen: Der Mossad, also der Auslandsgeheimdienst, wird ihn jagen, koste es, was es wolle und wie lange es auch dauern möge, bis zu dessen Tod.
SPIEGEL: Aber wie kann es sein, dass in einem demokratischen Land zwei Rechtssysteme nebeneinander herrschen? Eines fürs Volk, in dem Mord als Verbrechen gesühnt wird. Und eines für Geheimdienste und Militär, die auf politische Weisung über Leben und Tod entscheiden.
Bergman: Viele Jahrzehnte lang gab es keine Gesetze, die Aufgaben und Rechte der israelischen Geheimdienste bestimmten. Bis in die Siebzigerjahre war es sogar verboten, die Existenz des Mossad öffentlich zu machen. Seit 2002 ist die Rolle des Inlandsdienstes Schin Bet definiert, während der Mossad weiterhin ohne rechtlichen Rahmen tätig ist.
SPIEGEL: Und Israels Bürger finden das in Ordnung?
Bergman: In den ersten Jahrzehnten waren die Operationen ein großes Staatsgeheimnis, nie wurde etwas zugegeben. Sie gerieten nicht in den Blick der Öffentlichkeit. Später haben es die Bürger, auch die Medien akzeptiert – weil es zur Wahrung der nationalen Sicherheit nötig sei.
SPIEGEL: Der Mossad genießt international den Ruf, bestens informiert und äußerst effektiv zu sein. Ihr Buch liest sich streckenweise wie eine Entmystifizierung.
Bergman: Nun, insgesamt betrachtet halte ich den israelischen Geheimdienstapparat für einen der besten, wenn nicht den besten der Welt. Es gab dennoch eine Menge katastrophaler Fehler, bis zum Tiefpunkt Mitte der Neunzigerjahre, als die Dienste neue Bedrohungen wie Iran und die Hamas schlicht nicht auf dem Schirm hatten. Aber im Großen und Ganzen waren sie äußerst effizient, und das ist die wahre Katastrophe für Israel.
SPIEGEL: Inwiefern?
Bergman: Weil die politische Führung in dem Glauben bestärkt wurde, die Geheimdienste könnten mit Gewalt alle Probleme lösen. Aus meiner Sicht ist es deshalb eine Geschichte vieler kleiner taktischer Erfolge – aber eines unglaublichen strategischen Versagens. Weil dieser Irrglaube den Weg für politische und diplomatische Lösungen verstellte.
SPIEGEL: In Ihrem Buch trifft man auf große Politikernamen, die in jungen Jahren in viele Geheimoperationen eingebunden waren: Yitzhak Shamir, Ehud Barak, Benjamin Netanyahu …
Bergman: Das ist in Israel einzigartig: Sehr junge Leute kamen mit ihren jeweiligen Chefs zum Premierminister, um sich Tötungsmissionen genehmigen zu lassen. Manche von ihnen saßen dann Jahrzehnte später selbst in diesem Stuhl. Ehud Barak kommandierte die Einheit, die den Fatah-Führer Abu Dschihad in Tunis tötete. Einer der beteiligten Agenten, Moshe Ya’alon, wurde später Stabschef, Verteidigungsminister und Vizepremier. Das hat natürlich Auswirkungen. Es sorgt mit dafür, dass die Strategie des Tötens überlebt. Es trägt zur Überzeugung bei, dass es legitime und notwendige Maßnahmen sind, um die Sicherheit Israels zu gewährleisten.
SPIEGEL: Was waren aus Ihrer Sicht die größten Pannen der Dienste?
Bergman: 1973 sollte im norwegischen Lillehammer ein Führungsmitglied der Terrororganisation „Schwarzer September“ eliminiert werden. Aufgrund einer Verwechslung erwischte man einen unschuldigen Kellner. 1997 hatte der gescheiterte Giftmordanschlag auf den politischen Chef der Hamas, Khaled Meshal, in Amman fatale Folgen: Die israelischen Agenten wurden verhaftet und später gegen Scheich Jassin ausgetauscht, den Anstifter vieler Terroraktionen der Hamas. Und natürlich das Debakel in Dubai Anfang 2010, als der Mossad einen Hamas-Mann in einem Flughafenhotel umbrachte, die Agenten in der Lobby und auf den Fluren aber gefilmt und öffentlich der Lächerlichkeit preisgegeben wurden.
SPIEGEL: Wieso konnte es zu solchen Pleiten kommen?
Bergman: In diesen Fällen spielte Hybris eine Rolle, das Gefühl, unfehlbar und unverwundbar zu sein. Aber all das verblasst gegen das strategische Versagen, die neuen Bedrohungen Mitte der Neunzigerjahre übersehen zu haben. Während die Dienste noch die Geister der Vergangenheit jagten, entstand mit Hamas und Hisbollah und deren neuer Terrormethode der Selbstmordattentate eine dramatische Bedrohungslage. Das hat Hunderte Israelis das Leben gekostet.
SPIEGEL: In Ihrem Buch gibt es eine Reihe deutscher Bezüge. Zu den ersten Zielen des Mossad gehörten Nazis wie Adolf Eichmann oder Raketenwissenschaftler, die Hitlers Wunderwaffe V2 entwickelt hatten und später für Ägypten forschten (zum Arikel). Wie eng waren damals die Beziehungen zwischen dem Bundesnachrichtendienst und dem Mossad – und wie sind sie heute?
Bergman: Sehr eng, damals schon, und sie wurden immer enger. Der deutsche Dienst wird im Mossad als hilfsbereit und proisraelisch wahrgenommen. Selbst wenn eine erbetene Unterstützung offiziell abgesagt wurde, haben BND-Leute oft informell geholfen, das haben mir mehrere Agenten beschrieben. Etwa indem die BND-Kollegen zu Treffen kamen, Dokumente auf den Tisch legten und dann auf die Toilette verschwanden.
SPIEGEL: 1972 erlitt die deutsch-israelische Zusammenarbeit empfindlichen Schaden. Palästinensische Terroristen nahmen während der Olympischen Spiele in München elf israelische Athleten und Betreuer als Geiseln. Sie schreiben, Israel habe eine Sondereinheit zur Befreiung einfliegen lassen wollen, die deutschen Behörden hätten ihnen aber die Einreise verweigert.
Bergman: Für den Mossad und für das gesamte Land war das Massaker in Fürstenfeldbruck ein traumatisches Ereignis. Später schilderte der Mossad-Chef in Berichten und sogar vor einem Knesset-Ausschuss detailreich die Unfähigkeit und schlimmer noch den Unwillen der deutschen Sicherheitsbehörden, effektiv einzuschreiten. Viele können bis heute nicht nachvollziehen, was diese Katastrophe ausgelöst hat; in gewisser Weise war es Israels 9/11. Unter anderem änderte Premierministerin Golda Meir ihre Haltung, was Tötungsoperationen gegen Terroristen in Europa anging. Sie gab ihre Vorsicht auf.
SPIEGEL: Im Kampf gegen den palästinensischen Terror nach dem Olympia-Attentat gelang es israelischen Diensten, einen Anschlag auf einen El-Al-Jet in Nairobi zu verhindern. Dabei wurden mit Brigitte Schulz und Thomas Reuter zwei Deutsche gefasst und in einer Geheimaktion nach Israel gebracht. Es gab nach Ihren Recherchen Pläne, sie über dem Meer abzuwerfen. Was hielt Israel davon ab?
Bergman: Es war eine neue Zeit, Mitte der Siebziger. Israel hatte den Sechstagekrieg gewonnen, das Land war selbstbewusst. Andere Leute waren an den Spitzenpositionen, Generalstaatsanwalt Aharon Barak machte unmissverständlich klar, dass ein Mord an deutschen Staatsbürgern nicht infrage komme. Er sagte, man müsse verrückt sein, so etwas nur zu erwägen.
SPIEGEL: Wer sind die Männer und Frauen, die für den Mossad töten?
Bergman: Es gibt kein Muster, oft sind sie sehr jung, unter 30. Diejenigen, die in arabischen Ländern agieren, brauchen eine wasserdichte Tarnung. Sie sind Israelis, aber in der Regel nicht in Israel geboren.
SPIEGEL: Haben Sie Mitglieder von Killerkommandos kennengelernt, die in der Rückschau an ihrem Handeln zweifelten?
Bergman: Dazu fällt mir mein Besuch bei Natan Rotberg ein, dem langjährigen Leiter des Sprengstofflabors des militärischen Geheimdienstes. Er sprach nonchalant davon, dass es sein Job gewesen sei, „Treffen mit Gott zu arrangieren“, und ermunterte mich zu fragen, wie viele dieser Treffen er arrangiert habe – mehr als vierzig. Er sagte das mit Stolz. Für deutsche Ohren klingt das sicher seltsam, vielleicht unerträglich. Aber in Israel wird Rotberg nicht als Mörder oder Krimineller angesehen, sondern als Held verehrt, der aus tiefer Überzeugung israelische Leben rettete.
SPIEGEL: Manche der Todeskandidaten überlebten über Jahrzehnte. Jassir Arafat zum Beispiel. Sie schildern verschiedene Operationen, etwa den Plan, eine Wohnung in der Beethovenstraße in Frankfurt am Main zu stürmen, wo sich die Palästinenserführung in den Sechzigern regelmäßig traf, und dort alle umzubringen. Hatte Arafat nur extremes Glück?
Bergman: Er war extrem vorsichtig, vertraute niemandem und verbreitete aktiv Desinformationen, etwa über seine Reisepläne. Andererseits gab es auch immer wieder mutige Chefs israelischer Sicherheitsbehörden, die sich weigerten, bestimmte Operationen auszuführen – weil das Risiko immenser Kollateralschäden bestand.
SPIEGEL: Als er tatsächlich starb, gab es schnell Gerüchte, Israel stecke dahinter. Was wissen Sie über Arafats Tod?
Bergman: Ich kann darauf keine Antwort geben, selbst wenn ich sie wüsste. Die israelische Militärzensur untersagt es mir, dieses Thema zu diskutieren. Ich kann nur sagen, Premier Ariel Sharon hasste ihn, obsessiv. Sein Stabschef erzählte mir, dass Sharon täglich anrief, um zu fragen, was gegen Arafat unternommen werde. Es war klar, dass die USA einen Mordanschlag nicht gutheißen würden. Präsident George W. Bush verlangte von Sharon im April 2004 eine Zusage, dass alle Versuche unterbleiben sollten. Aber Sharon antwortete nur: Herr Präsident, ich verstehe Ihren Punkt. Wenn Israel etwas unternommen hätte, müsste es so diskret passiert sein, dass sowohl die USA als auch die Palästinenser nichts davon mitbekommen.
SPIEGEL: Obwohl Sie Ihr Buchmanuskript der Militärzensur vorlegen mussten, gehen Sie in Teilen mit der israelischen Regierung hart ins Gericht. Welchen Einfluss hat der Zensor genommen?
Bergman: Ich arbeite seit 25 Jahren als Journalist und befinde mich seither im Kampf mit diesem System. Hunderttausende Wörter, die ich geschrieben habe, durften nicht erscheinen. Ich bin so oft gegen die Entscheidungen vor Gericht gezogen – und habe immer verloren. Ich bin der Meinung, dass es nicht die nationale Sicherheit Israels gefährdet, Pannen oder gar Verbrechen zu benennen. Ein Land, das die Veröffentlichung solcher Themen aushält, ist ein stärkeres Land, um nicht zu sagen: ein demokratischeres. Umso wichtiger ist es mir, über die Geheimdienste, die weder vom Parlament noch von anderen Organen wirksam kontrolliert werden, weiterhin zu berichten.
SPIEGEL: Anders als in den USA scheinen kaum interne Widerstände oder Whistleblower zu existieren. Wieso hat es in Israel nie einen Edward Snowden gegeben?
Bergman: Die israelische Gesellschaft ist eine besondere, die Loyalität gegenüber Behörden und der Patriotismus sind groß. Andererseits haben ja sehr viele mit mir gesprochen und mir teils sogar Unterlagen anvertraut, die sie gar nicht haben dürften.
SPIEGEL: Was hat es mit Ihnen gemacht, das jahrzehntelange Treiben von Killerkommandos minutiös zu recherchieren, mit Tätern wie mit Opfern zu reden?
Bergman: Ich bin insgesamt viel kritischer geworden, was die Geheimdienste angeht, und sensibler in Bezug auf die vielen unschuldigen Opfer. Das Leid, das diese Missionen über so viele Familien gebracht haben, ist erschütternd. Ich habe eine Familie getroffen, die das Pech hatte, in ihrem Auto vorbeizufahren, als 2006 eine israelische Rakete einschlug. Die damals zweijährige Tochter hat ein Schrapnell abbekommen und ist seither vom Hals an abwärts gelähmt, ihr Vater muss sie den ganzen Tag pflegen. Über diesen moralischen Preis kann man nicht einfach hinwegsehen, er ist bisweilen unerträglich hoch. Andererseits haben die Tötung des Hamas-Führers Scheich Jassin und kurz darauf die seines Nachfolgers dazu geführt, dass die Flut von Selbstmordattentaten abflaute – das war kein kleiner Erfolg.
SPIEGEL: Sie schildern, dass selbst der langjährige Mossad-Chef Meir Dagan und Premier Sharon zum Ende ihres Lebens sehr kritisch auf Israels Gewaltstrategie geblickt haben. Wie kam es dazu?
Bergman: Das war bei beiden ein langer Prozess. Dagan ging geheime Kooperationen mit vielen arabischen Geheimdiensten ein und stellte überrascht fest, wie viele gemeinsame Interessen es gab: Alle hassten sie Syriens Staatschef Assad und waren gegenüber Iran mindestens so misstrauisch wie die Israelis. Da wurde ihm offenbar klar, dass Kooperation und Diplomatie das Land vielleicht weiter vorangebracht hätten als militärische Konfrontation. Er sah plötzlich eine reale Chance für Frieden.
SPIEGEL: Es gab eine israelisch-arabische Geheimdiplomatie?
Bergman: Die Welt wird schockiert sein, wenn sie irgendwann erfährt, wie weit diese Kooperation zwischen israelischen und arabischen Diensten funktionierte. Ein Großteil der Erfolge, die dem Mossad in den letzten 20 Jahren zugeschrieben wurden, gehen darauf zurück.
SPIEGEL: Herr Bergman, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
* Marcel Rosenbach und Alfred Weinzierl in Hamburg.