“Schutzverantwortung” und Genozid-Prävention
Diana Johnstone: “Schutzverantwortung” und Genozid-Prävention
Erstellt am Mittwoch, 06. Februar 2013 15:35
Widerstand gegen Völkermord ist eine Art Heimindustrie in den USA geworden.
Originaltext: The Good Intentions That Pave the Road to War. In: Counter-punch, 1 February 2013; http://www.counterpunch.org
Überall in den Universitäten tauchen Genozid-Forschungen auf. Vor fünf Jahren wurde eine wenig überzeugende „Genozid-Präventions-Einsatzgruppe“ von der früheren Außenministerin Madeleine Albright und dem früheren Verteidigungsminister William Cohen eingerichtet, beide altgediente Mitglieder der Clinton-Regierung. Die Bibel dieser Kampagne ist Samantha Powers Buch „Ein Problem aus der Hölle“ (A Problem from Hell). Frau Powers These ist, dass die US-Regierung, wenn auch, wie wir alle, mit guten Absichten, gleichwohl zu langsam ist für Interventionen zum Stoppen von Völkermord. Das ist eine Idee, der sich die US-Regierung gerne anschließt, bis hin zur Frau Powers Anstellung als Beraterin des Weißen Hauses. Warum hat die US-Regierung den Kreuzzug gegen „Völkermord“ so eilfertig unterstützt?
Der Grund ist klar. Seit der Holocaust der allgegenwärtige historische Bezugspunkt in den westlichen Gesellschaften geworden ist, wird die Vorstellung von „Völkermord“ weithin und leicht als das schlimmste unseren Planeten treffende Übel wahrgenommen. Es wird so empfunden, als sei es noch schlimmer als Krieg.
Darin genau liegt sein immenser Wert für den US-militärisch-industriellen Komplex und die außenpolitische Elite, die einen akzeptierten Vorwand für militärische Interventionen wo auch immer suchen.
Die Besessenheit mit „Völkermord“ als der vorrangigen humanitären Angelegenheit in der heutigen Welt relativiert den Krieg. Sie widerruft das abschließende Urteil des Nürnberger Prozesses:
wonach Krieg in seinem Wesen etwas Böses sei. Seine Folgen beschränken sich nicht auf die kriegsführenden Staaten allein, sondern haben Auswirkungen auf die ganze Welt. Einen Angriffskrieg auszulösen ist demnach nicht nur ein internationales Verbrechen, es ist das höchste internationale Verbrechen und unterscheidet sich nur darin von anderen Kriegsverbrechen, dass es in sich selbst das akkumulierte Böse des Ganzen enthält.
Stattdessen wird nun der Krieg zu einer ritterlichen Handlung zur Rettung von ganzen Populationen vor „Völkermord“ erklärt.
Zur gleichen Zeit wird die nationalstaatliche Souveränität, die als eine Barriere errichtet worden war, um starke Nationen an der Invasion von schwachen Nationen zu hindern – also um Aggressionen und die „Geißel des Krieges“ zu verhindern – verspottet, als nichts anderes zu sein als ein Schutz für böse Herrscher („Diktatoren“), deren einziger Ehrgeiz darin besteht „ihr eigenes Volk zu massakrieren“.
Dieses ideologische Konstrukt ist die Grundlage der vom Westen vertretenen und einer mehr oder weniger zögerlichen UNO aufgezwungenen Doktrin der „R2P“ (right/responsibility to protect), der mehrdeutigen Abkürzung für sowohl das „Recht“ als auch die „Verantwortung“, Menschen vor ihrer eigenen Regierung zu schützen.
In der Praxis kann dies den dominierenden Mächten einen Blankoscheck ausstellen, militärisch bei schwächeren Nationen zu intervenieren, um eine je nach ihrem Belieben bevorzugte Rebellion zu unterstützen. Wenn diese Doktrin erst einmal akzeptiert scheint, kann sie sogar als Anreiz für Oppositionsgruppen fungieren, eine Regierung zu Repressionen zu provozieren, um dann nach „Schutz“ zu rufen.
Eines von vielen Beispielen dieser Heimindustrie ist das „Eine Welt ohne Völkermord“ (World Without Genocide) genannte Programm am William Mitchell College of Law in meiner Heimatstadt Saint Paul, Minnesota, deren Direktorin Ellen J. Kennedy kürzlich einen Artikel für die Minneapolis Star Tribune schrieb, in dem alle üblichen Klischees dieser scheinbar gut gemeinten aber fehlgeleiteten Kampagne auftauchten.
Fehlgeleitet und vor allem, irreführend. Sie lenkt die Aufmerksamkeit von Menschen mit guten Absichten weg von dem wesentlichen Anliegen unserer Zeit weg, nämlich das Hintreiben auf einen weltweiten Krieg.
Frau Kennedy gibt der zum Schutz vor Angriffskriegen errichteten rechtlichen Barriere der nationalstaatlichen Souveränität die Schuld an „Völkermord“. Ihre Lösung für Völkermord ist offenbar die Abschaffung der nationalstaatlichen Souveränität.
Seit mehr als 350 Jahren hätte das Konzept der „nationalstaatlichen Souveränität“ Vorrang vor der Idee „individueller Souveränität“ gehabt. Regierungen besäßen im Grunde Immunität gegenüber Interventionen von außen trotz innerhalb ihrer Grenzen ausgeführter Menschenrechtsverletzungen. Das Resultat wäre ein „wieder-und-wieder“ auftretendes Phänomen von Völkermorden seit dem Holocaust, mit dem millionenfachen Verlust menschlichen Lebens in Kambodscha, Bosnien, Ruanda, dem Kongo, Guatemala, Argentinien, Ost-Timor – eine lange Liste.
Tatsächlich aber löste Hitler den Zweiten Weltkrieg aus unter Verletzung der nationalstaatlichen Souveränität der Tschechoslowakei und Polens, teils, wie er behauptete, zum Stoppen der Menschenrechtsverletzungen, die deren Regierungen angeblich gegenüber den dort lebenden Volksdeutschen begingen. Um genau einen derartigen Vorwand für nichtig zu erklären und „die nachfolgenden Geneartionen vor der Geißel des Krieges zu schützen“ wurden die Vereinten Nationen gegründet auf der Grundlage der Anerkennung der nationalstaatlichen Souveränität.
Selbstverständlich besteht überhaupt keine Chance, dass die USA die eigene staatliche Souveränität aufgeben. Stattdessen werden alle anderen Staaten aufgefordert, ihre nationalstaatliche Souveränität aufzugeben – zugunsten der USA.
Frau Kennedy erweitert ihre Liste durch willkürliches Subsumieren verschiedener Elemente unter den einen Begriff „Völkermord“, zumeist entsprechend deren Stellung im offiziellen US-Narrativ der derzeitigen Konflikte.
Aber ein bedeutsames Faktum ist, dass die schlimmsten dieser Gemetzel – Kambodscha, Ruanda und der Holocaust – sich abspielten während und als Folge von Kriegen.
Das systematische Zusammentreiben, die Deportation und das Töten der europäischen Juden fanden während des Zweiten Weltkriegs statt. Die Juden wurden als „innerer Feind“ Deutschlands verleumdet. Krieg bildet einen perfekten Rahmen für derartige rassistische Paranoia. Schließlich wurden während des Zweiten Weltkriegs selbst in den USA japanisch-stämmigen amerikanische Familien ihr Besitz genommen, sie wurden zusammengetrieben und in Lager gebracht. Die Folgen waren nicht vergleichbar, aber der Vorwand war ähnlich.
In Ruanda war das schreckliche Gemetzel eine Reaktion auf eine Invasion von Tutsi-Streitkräften aus dem benachbarten Uganda und die Ermordung des Präsidenten des Landes. Der Kontext waren die Invasion und ein Bürgerkrieg.
Das kambodschanische Gemetzel war gewiss nicht die Folge einer „nationalstaatlichen Souveränität“. Es war in der Tat genau das direkte Ergebnis einer Verletzung von Kambodschas Souveränität durch die USA. Jahrelange geheime US-Bombardierungen kambodschanischer Gebiete, gefolgt von einem US-gesteuerten Sturz der kambodschanischen Regierung machten den Weg frei für die Übernahme des Landes durch verbitterte Rote Khmer Kämpfer, die ihre Wut über die Zerstörung der ländlichen Gebiete an der unglücklichen städtischen Bevölkerung ausließen, die sie als Komplizen ihrer Feinde einschätzten.
Die Gemetzel der Roten Khmer fanden statt, nachdem die USA in Indochina von den Vietnamesen besiegt worden waren. Als dann die Vietnamesen, nachdem sie durch bewaffnete Einfälle provoziert worden waren, intervenierten um die Roten Khmer zu stürzen, wurden sie in der UNO dafür von den USA verurteilt.
Einige der blutigsten Ereignisse gelangen gar nicht auf Frau Kennedys „Völkermord“-Liste. Es fehlt die Tötung von über einer halben Millionen Mitgliedern der Indonesischen Kommunistischen Partei in den Jahren 1965 und 1966. Nun ja, der verantwortliche Diktator, Suharto, war „ein Freund der Vereinigten Staaten“ und die Oper waren Kommunisten.
Aber während sie über eine halbe Millionen ermordete Indonesier auslässt, nimmt sie Bosnien in ihre Liste auf. In diesem Fall lag die höchste Schätzung der Opfer bei 8.000, alle davon Männer in militärfähigem Alter. Und in der Tat hat das der NATO ergebene Internationale Kriegsverbrecher-Tribunal für Jugoslawien (ICTY) entschieden, dass das Massaker von Srebrenica von 1995 einen „Völkermord“ darstelle.
Um zu diesem Urteil zu gelangen, trotz der Tatsache dass die angeblichen Täter Frauen und Kinder verschonten, fand das ICTY einen Soziologen, der behauptete, dass, da es sich bei der muslimischen Kommune von Srebrenica um ein Patriarchat handele, die Tötung der männlichen Mitglieder auf „Völkermord“ in einer einzelnen Stadt hinausliefe, da die Frauen nicht ohne ihre Männer zurückkehren würden. Diese weit-hergeholte Beurteilung war erforderlich, um „Bosnien“ als Ausstellungsstück A für den Fall der NATO-Militärintervention zu bewahren.
Dabei wird generell übersehen, dass Srebrenica eine Garnisonstadt war, in der 1995 nicht alle muslimischen Männer Einwohner der ursprünglich multi-ethnischen Stadt waren und von dort Angriffe auf serbische Dörfer der Umgebung durchgeführt worden waren. Auch haben die westlichen Medien nicht der Aussage muslimischer Führer in Srebrenica Aufmerksamkeit geschenkt, die vom Führer der islamischen Partei, Alija Izetbegovic, vertraulich gehört hatten, dass Präsident Clinton gesagt habe, dass ein Massaker von wenigstens 5.000 Muslimen benötigt würde, um die „internationale Gemeinschaft“ an die Seite der Muslime im bosnischen Bürgerkrieg zu bringen. Diese muslimischen Führer glauben, dass Izetbegovic bewusst Srebrenica ungeschützt ließ, um ein Massaker der nach Rache dürstenden Serben zu bewerkstelligen.
Ob diese Geschichte nun wahr ist oder auch nicht, sie zeigt eine ernsthafte Gefahr für die Übernahme des R2P-Prinzips. Izetbegovic war der Führer einer Partei, der seine Feinde mit militärischer Hilfe von außerhalb besiegen wollte. Die Welt ist voll von derartigen Führern ethnischer, religiöser oder politischer Gruppierungen. Wenn die wissen, dass „die einzige Supermacht der Welt“ ihnen zur Hilfe eilen könnte, wenn sie die bestehende Regierung des “Abschlachtens der eigenen Bevölkerung“ beschuldigen können, dann sind sie hochmotiviert jene Regierung zum benötigten Abschlachten zu provozieren.
Eine Anzahl früherer UN-Friedenswächter haben ausgesagt, dass muslimische Kräfte in Bosnien die berüchtigten „Marktplatzbombardierungen“ gegen Zivilisten in Sarajewo durchführten um ihre serbischen Gegner dieser Taten zu beschuldigen und internationale Unterstützung zu gewinnen.
Wie konnten sie etwas derartig Schreckliches tun? Nun, wenn der Führer eines Landes bereit ist, „seine eigene Bevölkerung zu massakrieren“, warum könnte ein Führer einer Rebellengruppierung, um an die Macht zu gelangen, nicht einigen „seiner eigenen Leute“ erlauben massakriert zu werden? Insbesondere, nebenbei bemerkt, wenn er von einer äußeren Macht – Katar z.B. – großzügig bezahlt wird für das Provozieren eines Aufstands.
Eine grundlegende Gefahr der R2P-Doktrin ist, dass sie Rebellengruppen ermutigt, Unterdrückungsmaßnahmen zu provozieren oder eine politische Verfolgung für sich zu reklamieren, nur um auswärtige Mächte für ihre Interessen ins Land zuholen. Es ist sicher, dass die militanten anti-Gaddafi Anhänger Gaddafis Bedrohung von Bengasi gewaltig übertrieben, um den französisch-geführten NATO-Krieg gegen Libyen zu provozieren. Der Krieg in Mali ist ein direktes Resultat des brutalen Sturzes von Gaddafi, der eine wichtige Kraft für Stabilität in Afrika war.
R2P dient primär dazu, eine öffentliche Meinung zu erzeugen, die bereit ist, US- und NATO-Interventionen in anderen Ländern zu akzeptieren. Keinesfalls soll den Russen oder den Chinesen gestattet werden zu intervenieren um, sagen wir, Dienstmädchen in Saudi-Arabien vor dem Enthaupten schützen, noch weniger soll kubanischen Kräften gestattet werden, Guantanamo zu schließen und die US-Menschenrechtsverletzungen auf kubanischem Territorium zu beenden.
US-Interventionen können auch keine Erfolgsbilanz des Schutzes von Menschen vorweisen. Es ist immer leichter, sich eine Intervention in Gedanken vorzustellen wo keine unternommen worden ist- zum Beispiel in Ruanda – als sie in der Wirklichkeit durchzuführen.
Im Dezember 1992 landete ein Bataillon der Marines in Somalia in der „Operation Hoffnung Wiederherstellen“ (Operation Restore Hope). Hoffnung wurde nicht wiedehergestellt, die Marines wurden von der örtlichen Bevölkerung massakriert und innerhalb von vier Monaten aus dem Land gejagt. Es ist eben leichter, sich eine Intervention in Gedanken vorzustellen, als sie in der Wirklichkeit durchzuführen.
Bei all ihrer militärischen Macht sind die USA nicht in der Lage die Welt nach ihrem eignen Gefallen umzugestalten. Das schlug fehl im Irak und in Afghanistan. Der „Kosovo-Krieg“ von 1999 wird als Erfolg beansprucht, aber nur durch gewissenhaftes Übersehen dessen, was in der Provinz passiert ist, seit sie Serbien durch die NATO entrissen und Washingtons albanischen Schützlingen übergeben wurde. Der „Erfolg“ in Libyen löst sich derzeit in aller Öffentlichkeit noch schneller auf.
Wie alle R2P-Befürwoter ermahnt uns Frau Kennedy einen Holocaust „nie wieder“ zuzulassen. In Wirklichkeit hat es „nie wieder“ einen weiteren Holocaust gegeben. Die Geschichte erzeugt einmalige Ereignisse, die sich allen unseren Erwartungen widersetzen.
Aber, so fragen mich Leute, was ist, wenn etwas derartig Schreckliches tatsächlich passiert ? Sollte die Welt nur daneben stehen und zuschauen?
Was ist denn mit „die Welt“ gemeint? Das westliche ideologische Konstrukt nimmt an, dass die Welt sich um Menschenrechte kümmern sollte, dass aber nur der Westen dies wirklich tut. Diese Annahme erzeugt einen sich vertiefenden Graben zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, der die Dinge anders sieht. Im größten Teil der übrigen Welt wird der Westen als Ursache humanitärer Katastrophen gesehen und nicht als deren Lösung.
Libyen markierte einen Wendepunkt, als die NATO-Mächte die R2P-Doktrin nicht benutzten um Menschen vor der Bombardierung durch ihre eigene Luftwaffe zu schützen ( der Gedanke hinter der Flugverbotszonen-Resolution der UNO ) sondern um selber das Land zu bombardieren, um es den Rebellen zu ermöglichen, den Führer zu töten und das Regime zu zerstören. Das hat die Russen und Chinesen überzeugt, wenn sie überhaupt je irgendwelche Zweifel hegten, dass R2P eine Täuschung darstellt, verwendet zur Förderung eines Projekts der Beherrschung der Welt.
Und dabei sind sie nicht allein oder isoliert Der Westen isoliert sich dabei selbst mit seiner machtvollen Propagandablase. Ein großer, vielleicht der größte Teil der Welt sieht westliche Interventionen durch wirtschaftliches Eigeninteresse oder die Interessen Israels motiviert. Das Gefühl der Bedrohung durch die US-Macht bringt andere Länder dazu, ihre eigenen Streitkräfte zu vergrößern und militante Oppositionelle zu unterdrücken, die als Ausrede für Interventionen von außerhalb dienen könnten.
Durch den Ruf „Völkermord“, wo keiner stattfindet, verhalten sich die USA wie der Hirte in der Parabel, der ohne Grund „ein Wolf!“ ruft, und sie verlieren damit ihre Glaubwürdigkeit. Sie zerstören damit das Vertrauen und die Geschlossenheit, die erforderlich wären, um internationale humanitäre Aktionen auf den Weg zu bringen, wenn sie wirklich benötigt würden.
[Übersetzung aus dem Englischen: Eckart Fooken]
Originaltext: The Good Intentions That Pave the Road to War. In: Counter-punch, 1 February 2013; http://www.counterpunch.org