Staatlich betreute Morde
Staatlich betreute Morde: Im NSU-Prozess wird heute das Plädoyer der Bundesanwälte fortgesetzt. Schon in der Anklageschrift war festgelegt, was nicht herauskommen soll
Von Wolf Wetzel, Junge Welt, 31.8.2017Für ein Zwischenfazit zu fünf Jahren NSU-»Aufklärung« gibt es keine bessere Einleitung als das Plädoyer der Bundesanwaltschaft vor dem Oberlandesgericht (OLG) München. Bevor Bundesanwalt Herbert Diemer am 25. Juli die Beweiserhebung im dortigen Prozess würdigte, ging er auf die Vorwürfe gegen die Anklagebehörde und andere staatliche Stellen ein:
»Eine Beweisaufnahme, die das politische und mediale Interesse nicht immer befriedigen konnte, weil die Strafprozessordnung dem Grenzen setzte. Rechtsstaatliche Grenzen, die verlangen, das Wesentliche vom strafprozessual Unwesentlichen zu trennen. So ist es schlicht und einfach falsch, wenn kolportiert wird, der Prozess habe die Aufgabe nur teilweise erfüllt, denn mögliche Fehler staatlicher Behörden und Unterstützerkreise – welcher Art auch immer – seien nicht durchleuchtet worden«, sagte Diemer laut Wortprotokoll der Nebenklage. »Mögliche Fehler staatlicher Behörden aufzuklären ist eine Aufgabe politischer Gremien. Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verstrickung von Angehörigen staatlicher Stellen sind nicht aufgetreten.«
Mit besonderem Eifer ging er auf den Mordanschlag in Heilbronn 2007 ein, bei dem eine Polizistin getötet und einer ihrer Kollegen schwer verletzt worden waren. »Der Anschlag auf die beiden Polizeibeamten war ein Angriff auf unseren Staat, seine Vertreter und Symbole. Die Auswahl der Personen selbst geschah auch hier willkürlich. Alle anderen Spekulationen selbsternannter Experten, die so tun, als habe es die Beweisaufnahme nicht gegeben, sind wie Irrlichter, sind wie Fliegengesumme in den Ohren«, teilte Diemer aus.
Mit den »selbsternannten Experten« und »Irrlichtern« sind Mitglieder parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, Nebenklageanwälte und einige wenige Journalisten gemeint, die zumindest die Widersprüche in der offiziellen Version nicht ausgeräumt sehen. Beschämend ist nicht nur das weitgehende Schweigen mancher Medien zu dieser Diffamierung, sondern vor allem auch das laute Sekundieren anderer: So warf etwa Welt-Autorin Gisela Friedrichsen am 4. August einer Gruppe von Opferanwälten vor, »eine Bühne zur Diskriminierung des Rechtsstaats« zu suchen.
Um so bemerkenswerter ist ein Kommentar von Andreas Förster am 1. August in der Frankfurter Rundschau (FR): »Was hat die Bundesanwaltschaft nur geritten? (…) Sehen sich die Ankläger einem Korpsgeist bundesdeutscher Sicherheitsbehörden verpflichtet, die die eigenen Verfehlungen lieber vertuschen als sie ehrlich aufarbeiten? (…) Der Geheimdienst hatte nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 in großem Stil Akten vernichtet, er hat Ermittlern – und Abgeordneten – Informationen gezielt vorenthalten, er hat sie vermutlich sogar belogen. Die Bundesanwaltschaft hätte daraufhin das Bundesamt in Köln durchsuchen können und wohl auch müssen. Aber das hat sie nicht getan, sondern klaglos die Vertuschungspraxis des Geheimdienstes hingenommen.« Die Behauptung der Ankläger, dass die Ermittlungen keine Hinweise auf eine strafrechtliche Verstrickung staatlicher Stellen ergeben hätten, bezeichnete Förster als »Persilschein« für den Verfassungsschutz.
Die erdrückende Zahl der Indizien und Beweismittel, die der offiziellen Version widersprechen, zum »Fliegengesumme« zu erklären, das lässt erahnen, wie dünn die schützende Decke sein muss, die über andere Tatbeteiligte gebreitet wurde.
Ende einer Dienstfahrt
Das Aufklärungsschiff »NSU-OLG-München« hat den Zielhafen fast erreicht. Die Besatzung wird bald von Bord gehen – ohne je entscheidend vorangekommen zu sein. Wenn die vorgelegten Beweismittel für zentrale Tatorte die offizielle Version unplausibel erscheinen lassen, dann ist das Ermittlungsergebnis weder »zweifelhaft« noch »umstritten«, sondern falsch. Dies betrifft vor allem das Kasseler Internetcafé des Mordopfers Halit Yozgat, wo der Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme angeblich nur zufällig zur Tatzeit verkehrte, den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter auf der Heilbronner Theresienwiese und den vermeintlichen Selbstmord der Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Eisenach.
Dass im Prozess in München weder Plausibilität noch Wahrscheinlichkeit eine Rolle spielen, liegt am allerwenigsten an den Nebenklagevertretern. Sie taten mit ihren zahlreichen Beweisanträgen, was sie konnten. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl lehnte aber solche, die die dubiose Rolle der Geheimdienste näher hätten beleuchten sollen, im Einklang mit der Bundesanwaltschaft als »nicht verfahrensrelevant« ab.
Schon vor Beginn der Hauptverhandlung im Mai 2013 stand fest, worüber nicht aufgeklärt werden sollte: erstens darüber, ob der NSU aus mehr als drei Personen bestand. Denn diese Mitgliederzahl nannten die Bundesanwälte in der Anklageschrift. Zweitens darüber, ob der Staat direkt oder indirekt am Zustandekommen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) beteiligt war – zum Beispiel durch Tatbeiträge von V-Leuten oder Strafvereitelung im Amt.
Dass all dies entscheidende Fragen sind, ist heute weitgehend unstrittig. Der Kenntnisstand von Untersuchungsausschüssen in Bund und Ländern weicht hier in einigen Punkten gravierend von der Anklageschrift ab. Beate Zschäpe, gemäß Staatsanwaltschaft das einzige überlebende NSU-Mitglied, hat nach langem Schweigen mit dürftigen Einlassungen die Anklageversion gestützt, dass sämtliche NSU-Morde einzig von Mundlos und Böhnhardt ausgeführt worden seien. Sie widersprach nur dem Vorwurf, selbst gleichberechtigte Planerin gewesen zu sein.
Zwei Tote und ein Netzwerk
Am 4. November 2011 wurden Mundlos und Böhnhardt tot in einem Wohnmobil in Eisenach gefunden. Sie sollen dort »einvernehmlichen Selbstmord« begangen haben. Dieses Ermittlungsergebnis stand wenige Tage später fest. Kurz darauf erfuhr die Öffentlichkeit, dass die seit 1998 abgetauchten Neonazis den NSU gegründet hatten. Davon wollen Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste dreizehn Jahre lang nichts gewusst haben. Dass seine Existenz nicht mehr zu leugnen war, ist einem zynischen Videoclip zu verdanken, den laut Anklageschrift Beate Zschäpe am Todestag von Mundlos und Böhnhardt verschickt hatte. Darin stellte sich der NSU als »Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz Taten statt Worte« vor und brüstete sich mehr oder weniger direkt mit einer bundesweiten Mordserie, die bis dato dem »kriminellen Ausländermilieu« zugeordnet worden war. Neun Männer mit Migrationshintergrund waren seit September 2000 mit der gleichen Waffe getötet worden, mehrere Medien hatten von »Dönermorden« gesprochen, ehe diese Verbrechen – elf Jahre nach dem ersten Toten – dem NSU zugeordnet wurden.
Wenig später erklärte man auch den Mordanschlag auf zwei Polizisten in Heilbronn 2007 für »gelöst«. Mundlos und Böhnhardt sollen auch diesen alleine begangen haben. Nach diesem überraschend schnellen Erkenntnisgewinn reihten sich Pannen, Rätsel und bedauerliche Zufälle aneinander. Das Erinnerungsvermögen vieler Beteiligter ließ plötzlich drastisch nach. Erst durch »Querverweise« und Indiskretionen kam heraus, was nicht mehr zu verheimlichen war. Akten über V-Leute in der rechten Szene ließ Referatsleiter Axel M. alias »Lothar Lingen« im Bundesamt für Verfassungsschutz wenige Tage nach dem mutmaßlichen Doppelselbstmord vernichten.
Wichtige Spuren wurden für nicht »zielführend« erklärt und ungeprüft abgelegt, andere Beweismittel wurden unterschlagen. Tatorte wie zum Beispiel der in Eisenach-Stregda 2011 wurden auf eine Art und Weise unbrauchbar gemacht, die jedes Ermittlungsergebnis wertlos macht. Fotos der Feuerwehr aus dem Inneren des Wohnmobils wurden beschlagnahmt, die SD-Karte der Kamera wurde später zurückgeben – gänzlich gelöscht. Anschließend verweigerte man der Gerichtsmedizin die Dokumentation vor Ort. Statt dessen wurde ein Bergungsfahrzeug mit einer 30 Grad steilen Rampe geholt, mit dem das Wohnmobil abtransportiert wurde, was jede weitere »Tatortanalyse« wertlos machte.
Es tauchten Zeugen auf, deren Aussagen belegen, dass Polizei und Geheimdienst sehr früh von der Existenz des NSU gewusst hatten. Zeugen, die darüber berichteten, dass mögliche Festnahmen gezielt verhindert worden seien, dass V-Leute den neofaschistischen Untergrund zu bilden geholfen hätten – durch Beschaffung von Sprengstoff, Wohnungen, Geld und falschen Papieren. Es tauchte bislang unterschlagenes Beweismaterial auf, das nahelegt, dass andere oder weitere Täter an den Terror- und Mordanschlägen beteiligt gewesen sein müssen.
Wie die versprochene Aufklärung und die fortdauernde Ermittlungssabotage zusammenpassen, beschäftigt viele. Man könnte auch fragen: Sind die »Ermittlungspannen« wirklich Zufall? Warum sollen die derart erzielten Ergebnisse dennoch über jeden Zweifel erhaben sein? Wie kann man der Behauptung, der NSU habe aus exakt drei Mitgliedern bestanden, auch nur eine Minute Glauben schenken, wenn der parlamentarische Untersuchungsausschuss des Bundestags bereits 2013 ein »massives Behördenversagen« konstatierte? Wenn die Behörden »versagt« haben, dann sind auch deren »Ermittlungsergebnisse« Teil des Versagens.
Bis zur Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat in Kassel 2006 müssen sich Interessierte und deren Nachkommen insgesamt 120 Jahre gedulden: Im Jahre 2134 sind die Unterlagen des hessischen Verfassungsschutzes von der 2014 festgelegten Geheimhaltung im Namen des »Staatswohles« befreit, wie Hessens NSU-Untersuchungsausschuss im Juni 2016 erfuhr. Im Jahr 2071 sollen die Akten des Bundesnachrichtendienstes zum Mordanschlag in Heilbronn 2007 freigegeben werden.
Die Fiktion vom »Terrortrio«
Der Behauptung, der NSU habe aus drei Mitgliedern bestanden, widerspricht nicht nur dessen Selbstbezeichnung als »Netzwerk«. Demnach waren mehr als drei »Kameraden« beteiligt. Tatsächlich wurden beziehungsweise werden neben dem Münchner Prozess mit fünf Angeklagten noch Ermittlungsverfahren gegen neun weitere Beschuldigte und eines gegen Unbekannt geführt, wie Oberstaatsanwältin Anette Greger Ende 2016 im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags sagte. Allerdings wurden die betroffenen Neonazis von vornherein nicht als Mitglieder, sondern nur als Helfer des NSU beschuldigt. Bei konsequenten Ermittlungen würde man vermutlich auch auf zahlreiche V-Leute unter den Beteiligten stoßen.
Untersuchungsausschüsse fanden heraus, dass deutsche Behörden (Polizei, Verfassungsschutzämter und Militärischer Abschirmdienst) mit mindestens 40 V-Leuten am »Thüringer Heimatschutz« (THS), der Brutstätte des NSU, beteiligt waren. Diese Zahl beinhaltet nur die bis heute namentlich oder unter Decknamen bekannten Neonazis, die als »Vertrauenspersonen« geführt wurden. Bis heute ist kein Beweis erbracht, dass diese V-Leute den Kontakt zum NSU verloren hatten, als die Mordserie begann. Wäre es anders, wären die V-Leute-Akten im Bundesamt für Verfassungsschutz 2011 nicht beseitigt worden – man hätte sie vielmehr zur Entlastung den Untersuchungsausschüssen übergeben. »Vom Verfassungsschutz betreute Morde« nannte Rechtsanwalt Thomas Bliwier, der die Familie des NSU-Opfers Halit Yozgat vertritt, die Verbrechensserie im März 2016 in der ARD-Sendung »Hart aber fair«.
Thomas Starke, zeitweilig V-Mann des Berliner Landeskriminalamts, hatte dem späteren mutmaßlichen NSU-Kerntrio 1996/97 Sprengstoff geliefert – wie er später in einem Interview sagte nur deshalb, weil er Zschäpe imponieren wollte. 1,4 Kilogramm TNT-Sprengstoff wurden 1998 am Tag des Untertauchens von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bei der Durchsuchung in einer von ihr gemieteten Garage in Jena gefunden. Dort fanden die Ermittler auch die »Garagenliste« mit den Kontaktdaten befreundeter Neonazis und Unterstützer, darunter inzwischen enttarnte V-Leute wie Thomas Starke und der THS-Anführer Tino Brandt alias »Otto«, damals Honorkraft des Thüringer Verfassungsschutzes, sowie Kai Dalek, der in Bayerns brauner Szene für das dortige Landesamt für Verfassungsschutz tätig war. So verwundert es nicht, dass die Liste für mehr als zehn Jahre unausgewertet in der Asservatenkammer verschwand.
Staatlich gefördert
Ohne die Unterstützungsleistungen von V-Leuten der Geheimdienste und der Polizei, ohne die ungenutzten Festnahmemöglichkeiten wäre kein »Nationalsozialistischer Untergrund« entstanden. Obwohl Behörden nach dem Untertauchen von THS-Mitgliedern von der Bewaffnung, von geplanten Banküberfällen, von der Beschaffung falscher Identitäten Kenntnis hatten, wurde nicht nach Paragraph 129a wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung gegen das Umfeld des Trios ermittelt.
Es gab wiederholt Möglichkeiten, die abgetauchten Neonazis festzunehmen. Dass dies nicht passierte, lag nicht an Pannen, sondern an Anweisungen aus den jeweiligen Innenministerien. Diese Weigerung ist bis in das Jahr 2002 dokumentiert. In einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses wurde nach einem Bericht der Frankfurter Rundschau im Dezember 2011 bekannt, »dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte«. Auch das Innenministerium in Brandenburg ließ eine Möglichkeit verstreichen: Im September 1998 bekam der dortige Verfassungsschutz einen Tip von seinem V-Mann Carsten Szczepanski: Jan Werner, ein Neonazi aus Chemnitz, habe den Auftrag, Waffen für die drei abgetauchten Neonazis zu besorgen. Drei Tage nachdem die Brandenburger den vielversprechenden Vermerk geschrieben hatten, kam es zu einer geheimen Konferenz im Potsdamer Innenministerium, an der auch Vertreter der Verfassungsschutzämter aus Thüringen und Sachsen teilnahmen. Laut Protokoll der sächsischen Kollegen verhinderte das Brandenburger Ministerium aktiv die Suche nach den drei Untergetauchten. Es fürchtete demnach, Szczepanski alias »Piatto« könne dadurch als Spitzel auffliegen.
Wenn der Einsatz von V-Leuten aber schwere Straftaten verhindern oder aufklären soll, hätte diese Quellennachricht zu Fahndungszwecken freigegeben werden müssen. Fest steht mehr als fünf Jahre nach Bekanntwerden des NSU: Der Geheimdienst ist dank seiner zahlreichen V-Leute nicht nur den Neonazis in den Untergrund gefolgt – er ist selbst ein Teil des Untergrundes.
Zu den »Pannen« gehört auch das Schreddern von V-Mann-Akten im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im November 2011. Dabei handelte es sich um V-Mann-Akten von Neonazis, die im THS angeworben worden waren. Der BfV-Referatsleiter mit dem Decknamen »Lothar Lingen« hatte die Aktenvernichtung persönlich angeordnet.
Lange hielten sich für diese dienstliche Straftat zwei Erklärungen: Die erste wollte ein Versehen, eine Panne als Ursache glaubhaft machen. Die zweite: Man habe nur den Bestimmungen des Datenschutzes Rechnung getragen, also »Löschfristen« eingehalten.
»Lothar Lingen« machte jedoch in einer Vernehmung am 24. Oktober 2014 eine ganz andere Aussage, die zwar nicht überrascht, aber selten so klar ausgesprochen wird: »Und da habe ich mir gedacht, wenn der quantitative Aspekt, also die Anzahl unserer Quellen (…) in Thüringen, nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht mehr auftaucht«, sagte Lingen laut Protokoll des Bundeskriminalamtes (BKA), das erst 2016 im NSU-Ausschuss des Bundestags bekanntwurde. Die Aktenvernichtung sollte also aus der Welt schaffen, wovon man »nichts gewusst« haben will.
Staatsgeheimnis NSU
Gewaltbereite Neonazis gibt es auch ohne staatliches Zutun. Sowenig der NSU eine Staatserfindung ist (wie es »nationale Kameraden« rund um das Magazin Compact und den Blogger »Fatalist« glauben machen wollen), so konstitutiv ist das Agieren des Staatsapparats, der den braunen Untergrund mit angelegt hat und an der Nichtaufklärung der Morde bis heute arbeitet.
Ungewollt hat Klaus-Dieter Fritsche, Vizechef des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) von Oktober 1996 bis November 2005, dieses Amalgam benannt. Er wurde 2012 als Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags dazu vernommen, was der Geheimdienst wusste und welche »Quellen« er im Nahbereich des NSU »führte«. Obwohl er eigentlich nur erklären wollte, warum ihn das nichts anginge, verriet Fritsche genau das, was er verdecken wollte: »Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. (…) Es gilt der Grundsatz ›Kenntnis nur wenn nötig‹. Das gilt sogar innerhalb der Exekutive. Wenn die Bundesregierung oder eine Landesregierung daher in den von mir genannten Fallkonstellationen entscheidet, dass eine Unterlage nicht oder nur geschwärzt diesem Ausschuss vorgelegt werden kann, dann ist das kein Mangel an Kooperation, sondern entspricht den Vorgaben unserer Verfassung. Das muss in unser aller Interesse sein.«
Bis heute gilt die Aussage, dass das BfV nichts über den Aufbau des NSU, seine Mordpläne und die Aufenthaltsorte mutmaßlicher Zentralfiguren gewusst habe. Wenn dies der Wahrheit entspräche, hätte es sich mit der Offenlegung aller V-Mann-Akten entlasten können. Wenn es hingegen »Staatsgeheimnisse« schützen will, legt es nahe, dass mit der Aufdeckung des Wissens von V-Männern der Staatsanteil am neonazistischen Terror publik würde.
Juristisches Debakel
Der Münchner NSU-Prozess demonstriert seit vier Jahren, wie man den Glauben an die Justiz, an etwas wie Gerechtigkeit, falls noch vorhanden, zerstören kann. Denn dieses Verfahren zeigt, dass Grundsätze polizeilicher Ermittlungsarbeit außer Kraft gesetzt sind. Dass diese juristische »Aufarbeitung« selbst von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen in wichtigen Teilen konterkariert wurde, dass dort Fakten auf den Tisch gelegt werden, die das Gericht nicht interessierten, gehört zur Posse dieser Veranstaltung. Doch man sprach in diesen vier Jahren auch davon, dass Konsequenzen aus dem »Behördenversagen« bzw. »Staatsversagen« gezogen wurden müssten, dass der Verfassungsschutz »reformiert«, an die Leine genommen werden müsse.
Es ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dass anfangs die Abschaffung des Geheimdienstes verlangt worden war. Ein Ruf, dem selbst Kommentatoren bürgerlicher Medien folgten. Denn wenn ein Geheimdienst über dreizehn Jahre hinweg sein Wissen, seine »Quellen« nicht dazu nutzt, um schwere Straftaten zu verhindern, dann ist nicht einfach etwas schiefgegangen, dann ist ein solcher Geheimdienst selbst Teil einer kriminellen Vereinigung. Dafür sind alle Strukturmerkmale erfüllt: Beteiligung am Aufbau eines rechtsterroristischen Untergrundes. Das Legen falscher Fährten. Die Sabotage von Aufklärung. Die Vernichtung von Beweismaterial. Falschaussagen. Konspirative Absprachen zum Schutz von Geheimdienstmitarbeitern und V-Männern.
Doch damit nicht genug: Letztlich wurde der NSU-Skandal für »Reformen« genutzt, die dem Verfassungsschutz mehr Macht gaben. »Alle Geheimdienstaffären, das zeigt die Geschichte, enden damit, dass Personal und Budget für die Dienste aufgestockt werden«, konstatierte unlängst der Historiker Josef Foschepoth.
Diese Kontinuität lässt sich am Beispiel des Verfassungsschutzes sehr gut nachzeichnen. Bereits Ende 2014 meldete Spiegel online in einer klitzekleinen Nachricht den Beschluss des Vertrauensgremiums des Bundestages, dass das BfV mehr Geld bekommen werde. Zu den rund 2.800 Mitarbeitern sollten bald 100 weitere hinzukommen. Außerdem werden dieser Behörde als »Sachmittel« weitere 13,44 Millionen Euro bewilligt, womit ihr Etat im Jahr 2015 bei fast 231 Millionen Euro lag.
Doch auch das ist noch nicht alles: Im Juli 2015, hatte der Bundestag das »Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes« beschlossen: Das Begehen von »szenetypischen« Straftaten durch V-Leute wurde erstmals gesetzlich legitimiert. »Der faschistische Staatsrechtler Carl Schmitt brachte es auf den Punkt: ›Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.‹ Genau das wird mit der geplanten Reform der Sicherheitsbehörden faktisch erreicht«, schreibt der Politikwissenschaftler Hajo Funke in dem Sammelband »Geheimsache NSU: Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur« (Hg. Andreas Förster, 2014). »Indem V-Leute vor Strafverfolgung weitgehend geschützt sind, erhalten sie eine von außen unkontrollierbare Macht über einen rechtsfreien Ausnahmezustand. Ohne jede wirkliche Analyse der Mordserie und des staatlichen ›Versagens‹ wird ein Abgrund an geheimen Parallelstrukturen im Staat rechtlich etabliert.«
Wolf Wetzel ist Autor des Buchs »Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf?«, Unrast-Verlag 2015, 3. Auflage