Staatlich gefördert: NSU
Staatlich gefördert
Die Apparate und Geheimdienste der BRD waren über die Aktivitäten des NSU gut informiert und ließen in die falsche Richtung ermitteln
Von Wolf Wetzel
Verschlußsache. Solange dieser Staat existiert, wird vermutlich nie vollständig geklärt werden, wie groß sein Anteil an Aufbau und Unterhalt des NSU gewesen ist (Akten zum »Thüringer Heimatschutz«, hinter Gitter
Foto: Wolfgang Kumm/ dpa
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Wenn man die Rolle des Staates beim Zustandekommen und Gewährenlassen des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) nicht als Behördenversagen, als eine Serie von bedauerlichen und ganz persönlichen Pannen begreifen will, stößt man auf Achselzucken und erhält kaum Erklärungen. Eine politische Analyse macht die verselbständigten Geheimdienste für das Desaster verantwortlich: »Heute können wir nur ihr völliges Versagen feststellen, mindestens zehn Menschen könnten noch leben, wenn sie ihre Arbeit gemacht hätten. Die Dienste dienen nur sich selbst. Es ist darum richtig, sie aufzulösen. Eine unabhängige Wahrheitskommission (…) sollte die historischen Zusammenhänge zwischen Terrorismus und Geheimdienst ausleuchten«, schrieb der Feuilletonchef der FAZ, Nils Minkmar, am 20. November 2011.
Eine andere Erklärung legten der Politologe Hajo Funke und der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik in einem beachtenswerten Kommentar in der taz vom 25. April 2014 vor: Sie sehen einen »tiefen Staat« am Werk – »samt seiner Wasserträger im Parlament … eine Sphäre jenseits des Rechtsstaates«. Die Rolle staatlicher Institutionen ist nicht nur mit Blick auf den NSU von erheblicher Relevanz. Es gibt einen Vorläufer: Seit den 50er Jahren wurden über Jahrzehnte hinweg in nahezu allen NATO-Staaten an allen parlamentarischen Institutionen vorbei paramilitärische Einheiten unterhalten, die im Falle einer unterstellten Invasion von Truppen aus Staaten des Warschauer Vertrages Guerilla-Operationen und Sabotage im Hinterland durchführen sollten. Staatlich finanziert, bewaffnet und instruiert rekrutierten sich diese Stay-behind-Organisationen in der Regel aus Faschisten. Ihnen kam die Aufgabe zu, als staatsterroristische Reserve bereitzustehen. Die bekannteste dieser Geheimarmeen ist die italienische Gladio. Die Gesamtheit dieser Organisationen wird oft auch mit diesem Begriff zusammengefaßt. In der BRD war dies unter anderem der Bund Deutscher Jugend/Technischer Dienst.
Wer hat die politische Entscheidung – außerhalb der dafür vorgesehenen und legitimierten Dienstwege – getroffen? Wie muß man sich diese staatliche Parallelstruktur vorstellen, die diese politische Entscheidung operativ umsetzt und gegen alle geltenden Gesetze und parlamentarischen Kontrollgremien abschirmt? Gibt es einen staatseigenen Untergrund, der auch dann noch existiert, wenn Gladio, wie durch die Bundesregierung bekanntgegeben, Ende 1991 »aufgelöst« wurde?
Tiefer Staat in der BRD
Auch die BRD bricht geltendes nationales und internationales Recht, das ist – siehe die Beteiligung und Initiierung von Kriegen, fast schon Teil der Staatsräson. Beispiele sind der Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 oder – ganz aktuell – die aktive Unterstützung eines Putsches in der Ukraine, der mit maßgeblicher Beteiligung faschistischer Kräfte abläuft. Die hiesige Regierung unterstützt genauso staatsterroristische Aktivitäten anderer, befreundeter Staaten, was ebenfalls mit großer Gleichgültigkeit und breitem parlamentarischen Wohlwollen unter Beweis gestellt wird: So werden Drohnenangriffe, also extralegale Hinrichtungen, die die US-Regierung in aller Welt durchführt, auch mit Hilfe von militärischen Einrichtungen in Deutschland (US-Airbase Ramstein z.B.) koordiniert und umgesetzt.
Bis weit in die 90er Jahre hinein wurde der Vorwurf, deutsche Behörden rüsten Neonazis in Deutschland mit Waffen und Sprengstoff aus, leiten sie an und decken ihre terroristischen Aktivitäten, bestenfalls als paranoid abgetan. Tatsächlich war dies die gängige Praxis seit den 50er Jahren. Zuerst wurden sie als Stay behind-Truppen gegen eine angeblich drohende kommunistische Invasion unterhalten, ab den 70er Jahren wurden sie – nicht nur in Deutschland – gegen Linke im eigenen Land eingesetzt.
2013 erklärte die Bundesregierung das, was jahrzehntelang als Verschwörungsphantasie abgetan wurde, für hoheitliches Handeln: »Infolge der weltpolitischen Veränderungen hat der Bundesnachrichtendienst in Abstimmung mit seinen alliierten Partnern zum Ende des 3. Quartals 1991 die Stay-behind-Organisation vollständig aufgelöst.« (Plenarprotokoll 17/23617/236 vom 24.4.2013) Aber wo wird eine solche Praxis entwickelt und ausgeführt, und wie schützt man diese verfassungswidrige Praxis? In diesem Kontext fällt immer wieder der Begriff vom »tiefen Staat«. Obwohl er sehr oft für die aktuellen politischen Verhältnisse in der Türkei, einem Staat im Staat, benutzt wird, geht der Begriff auf die 70er Jahre zurück, als die damalige Regierung in Ankara sich sorgte, daß die kapitalistische Ordnung mit legalen Mitteln nicht mehr aufrechtzuerhalten sei. Zu der Zeit besaß nicht nur eine systemantagonistische Linke einen großen Einfluß auf den Fortgang der Geschichte, auch die PKK, die kommunistische Arbeiterpartei Kurdistans, hatte mit ihrem bewaffneten Kampf beträchtlichen Einfluß. Ohne die Verfassung (ganz) aufzuheben, ohne das parlamentarische System zu suspendieren, sollten Institutionen und Wege etabliert werden, die staatsterroristische Aktionen billigten und deckten. Dazu bediente sich der Staatsapparat sowohl der faschistischen Kräfte (MHP/Partei der Nationalen Bewegung, »Graue Wölfe«), als auch besonderer militärischer Einheiten, die für staatsterroristische Ziele eingesetzt wurden. Diese Koalition aus verläßlichen Militärs und Mitarbeitern ganzer Geheimdienstsektoren, aus Faschisten und Regierungspartei bildete den »Staat im Staat«, der über viele Jahre für die Opposition eine Mutmaßung, ein kaum belegbarer Verdacht bleiben mußte. Tatsächlich mündete diese Strategie 1980 in einen Militärputsch.
In der Türkei wurden die Gladio-Strukturen Bestandteil des »tiefen Staates«. Welche Strukturen wurden dafür in Deutschland geschaffen? Wer hat »Gladio« in Deutschland politisch gewollt und operativ umgesetzt, wenn es ein Fakt ist, daß diese Allianz aus Neonazis und Staat ohne eine parlamentarische Beteiligung respektive Kontrolle geschmiedet wurde? Wer entscheidet darüber, daß sich deutsche Behörden an staatsterroristischen Operationen der US-Regierung beteiligen?
Im zitierten Plenarprotokoll wurde nachträglich die Existenz der Stay-behind-Einheiten zugegeben. Demnach waren die jeweiligen Bundeskabinette in den Aufbau staatsterroristischer Strukturen eingeweiht. Da dieses Stay-behind-Konzept über Jahrzehnte galt, hatten sie die Zustimmung aller Regierungsparteien: Also die von CDU/CSU und FDP als auch von Union und SPD in der großen Koalition.
Das heißt: Gladio wurde von allen im Bundestag vertretenen Parteien, die in Regierungsverantwortung waren, gedeckt.
Mit der Umsetzung dieses Stay-behind-Konzeptes wurde der Bundesnachrichtendienst beauftragt, der Auslandsgeheimdienst der Bundesrepublik. Obwohl er also für Aufgaben im Inneren nicht zuständig ist, wurde er mit der Rekrutierung, Bewaffnung und Instruierung von Neonazis in Deutschland betraut. Der einzige Ort, wo Zuständigkeiten von Geheimdiensten geregelt und entschieden werden, ist das Bundeskanzleramt. Dort agiert der Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung.
Kurz: Die Regierung ist der politische Garant, im Bundeskanzleramt wird die operative Umsetzung geleitet, und der Geheimdienst in Gestalt des BND war das ausführende Organ.
Schutz der Staatsgeheimnisse
Mord in Anwesenheit eines Geheimdienstmannes. Öffentliches Gedenken (23.2.2012) am Tatort des NSU-Verbrechens von 2006, bei dem in einem Kasseler Internetcafé Halit Yozgat erschossen wurde
Foto: Uwe Zucchi/ dpa
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In vielen Analysen wird die Rolle der Geheimdienste, also des BND und des Verfassungsschutzes, als wesentliche Ursache für die Nichtverfolgung des NSU, für die fortgesetzte Weigerung, dessen Terror- und Mordserie aufzuklären, verantwortlich gemacht. Diese Einschätzung wird durch zahlreiche Belege gestützt. Hinlänglich dokumentiert ist, daß der Verfassungsschutz als V-Männer tätige Neonazis im Nahbereich des NSU gewarnt, polizeiliche Zugriffe verhindert und sein Wissen über die abgetauchten, unterschlagen hatte. Mehr noch: Es ist belegt, daß zahlreiche V-Männer des Verfassungsschutzes beim Aufbau eines neonazistischen Untergrundes beteiligt waren, also zur Konstituierung einer terroristischen Vereinigung beigetragen haben. Anstatt neofaschistisch motivierte Straftaten (in der Vorbereitung) zu verhindern, haben sie nachweislich dafür gesorgt, daß sie begangen werden konnten.
Es ist richtig, der Verfassungsschutz spielte eine aktive Rolle dabei, daß der NSU entstehen konnte, daß die Terror- und Mordserie nicht gestoppt wurde. Und doch stellt sich die Frage, ob die Behörde eigenmächtig, also ohne Zustimmung der übergeordneten Instanzen, gehandelt hat. Tatsächlich fehlen für die Verselbständigung der Geheimdienste die Belege.
Die Dienstwege zwischen dem Geheimdienst und anderen Behörden sind klar geregelt. Oberster Dienstherr von Polizei und Geheimdienst ist das Innenministerium bzw. in besonderen Fällen das Bundeskanzleramt. Gibt es einen Konflikt zwischen Polizei- und Geheimdienst – und diese sind konstitutionell gewollt –, trifft das Ministerium eine Entscheidung. Wurde dieser Dienstweg im NSU-Komplex eingehalten? Nach allem, was vorliegt: ja.
Die Weigerung, die abgetauchten Mitglieder des »Thüringer Heimatschutzes« festzunehmen, ist bis in das Jahr 2002 dokumentiert: »Vergangene Woche war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekanntgeworden, daß ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte«, war in der Frankfurter Rundschau vom 8. Dezember 2011 zu lesen. Die Belege, daß in Bundesländern, wo die Terror- und Mordserie des NSU verübt wurde, die jeweiligen Innenministerien das letzte Wort hatten, unabhängig davon, ob sie von der CSU oder der SPD geführt wurden, sind zahlreich und fast lückenlos.
Nachdem die Existenz des NSU nicht mehr zu verheimlichen war, versprach die Bundeskanzlerin Angela Merkel 2011 der Öffentlichkeit und den Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors lückenlose Aufklärung. Zeitgleich begann im Bundesamt für Verfassungsschutz eine umfangreiche Vernichtung der Akten von V-Männern, die im Nahbereich des NSU operiert hatten. Mehr als 300 Dokumente wurden beseitigt. Für das, was wochenlang und akribisch im Bundesamt für Verfassungsschutz angeordnet, durchgeführt und dann als ›Versehen‹ bedauert wurde, fand dessen ehemaliger Vize-Chef Klaus-Dieter Fritsche vor dem NSU-Ausschuß in Berlin am 18. Oktober 2012 klare Worte: »Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. Es darf auch nicht so weit kommen, daß jeder Verfassungsfeind und Straftäter am Ende genau weiß, wie Sicherheitsbehörden operativ arbeiten und welche V-Leute und verdeckten Ermittler im Auftrag des Staates eingesetzt sind. Es gilt der Grundsatz ›Kenntnis nur, wenn nötig‹. Das gilt sogar innerhalb der Exekutive. Wenn die Bundesregierung oder eine Landesregierung daher in den von mir genannten Fallkonstellationen entscheidet, daß eine Unterlage nicht oder nur geschwärzt diesem Ausschuß vorgelegt werden kann, dann ist das kein Mangel an Kooperation, sondern entspricht den Vorgaben unserer Verfassung. Das muß in unser aller Interesse sein.«
Auf unfreiwillige Weise bestätigte der Vizechef des Inlandsgeheimdienstes damit, daß eine tatsächliche Aufklärung der Terror- und Mordserie des NSU eine Beteiligung staatlicher Stellen offenlegen würde, die »Regierungshandeln unterminieren« könnte.
Fritsches Hinweis auf zu schützende Staatsgeheimnisse und sein beruflicher Werdegang deuten an, wie sehr der NSU-Skandal in staatliche Strukturen hineinragt. Von Oktober 1996 bis November 2005 war er Vizepräsident des BfV. Von Dezember 2005 bis Dezember 2009 arbeitete Fritsche als Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt. Die doch recht unverblümte Ankündigung und Rechtfertigung, die juristische und politische Aufklärung zu sabotieren, hat diesem Mann nicht geschadet. Im Gegenteil: Er hat sich damit geradezu selbst befördert. Seit Dezember 2013 ist er Staatssekretär für die Belange der Nachrichtendienste im Bundeskanzleramt. Dieser Posten wurde von der Bundeskanzlerin Angela Merkel neu geschaffen.
Staatlicher Rassismus
Wie tief sind staatliche Institutionen in den NSU, in dessen Verbrechen involviert? Angesichts von Hunderten von Akten, die bislang vernichtet wurden, angesichts der ungezählten Akten, die die Generalbundesanwaltschaft unter Verschluß hält, ist diese Frage zweifellos am schwersten zu beantworten.
Die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der 70er und 80er Jahre waren andere als jene in den beiden Jahrzehnten danach. Der Unterhalt paramilitärischer Stay-behind-Organisationen ist nicht das Gleiche wie der Terror des NSU. Dennoch läßt sich anhand der noch vorhandenen Fakten und Indizien der Staatsanteil am NSU recht sicher eingrenzen und bestimmen. Belegbar ist die Rolle von Behörden bis zum Jahr 2000, bis zum ersten Mord, der dem NSU zugeordnet wird. Das Abtauchen der Mitglieder des »Thüringer Heimatschutzes« 1998 war gewollt, und jede Möglichkeit, sie festzunehmen, unterbunden worden. Diese Entscheidung wurde jeweils auf der Ebene der Innenminister getroffen. Möglicherweise wollte man an weitere terroristische Strukturen herankommen, um diese verfolgen und zerschlagen zu können.
Wenn diese sehr wohlwollende Annahme das Gewährenlassen erklärt, dann stellt sich die Frage: Wußten staatliche Stellen, die den NSU mit Hilfe von über 25 namentlich bekannten V-Leuten eskortiert haben, von den Mord- und Terrorplänen? Offenbar ja, denn offenbar hatten zum Teil jahrelang »geführte« und als sehr vertrauenswürdig eingestufte V-Leute im Nahbereich des NSU Kenntnis davon. Das Verhalten nach Bekanntwerden der Terrorzelle läßt diesen Rückschluß zu: Die Vernichtung von Hunderten Treffberichten mit V-Leuten im BfV und anderen Dienststellen galt vor allem Vorgängen nach dem ersten Mord 2000. Wenn sie nichts Belastendes enthalten hätten, hätte man sie nicht beseitigt, sondern als Beweis staatlicher Unschuld vorgelegt. Recht sicher kann ebenfalls davon ausgegangen werden, daß die Ermordung von neun Kleinunternehmern keine staatlichen Interessen befriedigte. Es waren zweifellos rassistische Gründe, die für die Auswahl von türkischen und griechischen Kleinunternehmern entscheidend waren.
Warum wurden aber die zahlreichen Möglichkeiten nicht genutzt, die Terror- und Mordserie aufzuklären bzw. zu stoppen? Ganz offensichtlich hat das Interesse überwogen, diese Verbrechen als Beweis für eine wachsende Gefahr der »Ausländerkriminalität«, als Beleg für das Anwachsen »Organisierter Kriminalität« zu nutzen. Gleichzeitig war das Bemühen groß, die Gefahren eines »gewaltbereiten Rechtsradikalismus« für klein und die Bedrohung durch einen »rechtsterroristischen Untergrund« für gänzlich übertrieben zu halten. Vielleicht hat diese Mischung aus institutionellem Rassismus und dem mit 9/11 neu erschaffenen Feindbild des »Schläfers« (des unauffällig lebenden Ausländers, der nur darauf wartet, sich in eine Bombe zu verwandeln) ausgereicht, um die Aufklärung der Terror- und Mordserie als neonazistische Taten zu verhindern, was de facto die Fortsetzung der Mordserie ermöglichte.
Mord unter Aufsicht des Staates
Der Mord in Kassel im Jahr 2006 markierte einen Wendepunkt: Die polizeilichen Untersuchungen waren im Mordfall Yozgat überraschend konsequent. Sie ermittelten tatsächlich in alle Richtungen. Recht schnell war klar, daß Halit Yozgat ein zufälliges Opfer war – was gegen die Annahme sprach, daß es sich um eine Abrechnung im »kriminellen Milieu« handelte. Von daher wurden rassistische Motive nicht ausgeschlossen: »Wir haben dazu ein Täterprofil erstellt … Eine gewisse Nähe zur rechten Szene haben wir als wahrscheinlich angesehen.« (Profiler Alexander Horn vor dem NSU-Untersuchungsausschuß, zitiert nach: Stefan Aust/Dirk Laabs: Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU, München, 2014, S. 646)
Diese Fallanalyse, die Annahme eines neonazistischen Hintergrundes, hätte einen Wendepunkt markieren können. Tatsächlich wurde dies nicht nur auf Landesebene durch den damaligen hessischen Innenminister und jetzigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier verhindert. Die Entscheidung, »auf vollen Touren, Stoßrichtung organisiertes Verbrechen« (ebd., S. 645), also in die falsche Richtung zu ermitteln, fiel auf einer Konferenz der zuständigen Ressortchefs am 4. Mai 2006: »Im Vorfeld der Fußball-WM treffen sich die Innenminister der Länder mit dem Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble zu einer Konferenz auf der Zugspitze. (…) Wenige Tage nach dem Mord von Kassel war ein Deutsch-Äthiopier in Potsdam zusammengeschlagen worden. Normalerweise nimmt die Öffentlichkeit selten Notiz von oder gar Anteil an einem solchen Überfall – aber unmittelbar vor der WM wird der Fall zu einer großen Story. (…) Was würde wohl passieren, wenn der neueste Stand der Ceska-Serie durchsickern würde? Wie würden die Reporter aus England, Israel, den USA mit den Informationen umgehen, daß ein deutscher Geheimdienstmann ein Verdächtiger in einer Mordserie an Migranten ist, die seit sechs Jahren (…) nicht gestoppt werden kann? Am Rande der Innenministerkonferenz wird entschieden, (…) das die BAO (Besondere Aufbauorganisation) Bosporus in ihren Strukturen mehr oder weniger so bleiben soll wie bislang. Also keine Übernahme durch das BKA. Was den Vizepräsidenten des BKA, Bernhard Falk, zu der internen Aussage hinriß, daß die Struktur ›kriminalfachlich stümperhaft‹ sei.« (ebd., S. 644 f.)
Zum anderen scheiterte an den hartnäckigen Ermittlungstätigkeiten der Polizei der Versuch, die Anwesenheit des V-Mann-Führers Andreas Temme am Tatort zu vertuschen. Damit war die Büchse der Pandora geöffnet: Die Präsenz eines Geimdienstmitarbeiters am Tatort, seine eigene neonazistische Einstellung, das »Führen« eines Neonazis als V-Mann, der sich im Netzwerk des NSU bewegte, machte aus der provokativen eine geradezu zwingende Frage: Gibt es dort Knotenpunkte, die staatlichen Behörden zugeordnet werden können? Die rassistische Mordserie des NSU endet in Kassel. Wahrscheinlicher ist, daß die Aufdeckung der Anwesenheit eines hessischen Geheimdienstmitarbeiters bei einem Mord nicht nur seine Vorgesetzten in fieberhafte Aktivitäten versetzt hat, sondern auch die Mitglieder des NSU. Das zweite Ereignis, das nicht so recht passen will, betrifft den Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007. Dort haben keine rassistischen Motive die Aufklärung verhindert. Tatsächlich wurde mit allen Mittel unterbunden, mit Hilfe überwältigend klarer Indizien und Hinweise (Phantombilder, Zeugenaussagen etc.) die Mörder zu finden.
Die Tatsache, daß jahrelang mit Vorsatz eine Fahndung mit Hilfe der erstellten Phantombilder unterbunden wurde und falsche Spuren (Wattestäbchenphantom) mit Hingabe verfolgt wurden, ist ermittlungsmethodisch nur so zu erklären: Man wollte und will um jeden Preis vermeiden, auf die Mörder zu stoßen. Mörder, die am allerwenigsten die beiden NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sein können. Ein solches Vorgehen überschreitet mit Sicherheit die Kompetenzen einer Landesregierung, vor allem dann, wenn andere, in diesem Fall US-amerikanische Geheimdienste vom Tatgeschehen Kenntnis hatten.
Der Tod der beiden NSU-Mitglieder in Eisenach 2011 kann in vielerlei Hinsicht als finales Ereignis gewertet werden. Was dreizehn Jahre mit Unkenntnis erklärt/getarnt wurde, war nun nicht mehr zu verheimlichen: die Existenz des NSU und dessen Bekenntnis zu Terror- und Mordtaten. Über Landes- und Parteigrenzen hinweg war allen Beteiligten klar, daß die allerorts verhinderte Aufklärung der Mordserie als neonazistische Taten zur Sprache kommen würde. Über alle Landes- und Parteigrenzen hinweg würde die Rolle der V-Leute in den Mittelpunkt rücken, die im Nahbereich des NSU operierten.
Und ganz offensichtlich existierte ein waches Bewußtsein darüber, daß der »Selbstmord« der beiden NSU-Mitglieder weder mit der politischen Biographie noch mit den vorliegenden Fakten vereinbar ist. Die »dritte Hand« im NSU-VS-Komplex war kaum noch zu übersehen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt mußte das, was intuitiv und vor Ort auf ähnliche Weise gehandhabt wurde, zentralisiert werden. Die kurz danach einsetzende »Operation Konfetti«, die Vernichtung von kompromittierenden Spuren, in allen Behörden, auf allen Hierarchieebenen, in allen Bundesländern, trägt nicht die Handschrift von Einzelgängern, sondern die eines »Krisenstabes«. Eines Krisenstabes, der mit der Kompetenz und Macht ausgestattet ist, die Aufklärung der neonazistischen Terror- und Mordserie zu manipulieren – an allen parlamentarischen Kontrollinstanzen vorbei.
Was nach dem Tod der beiden NSU-Mitglieder in Eisenach 2011 in Gang gesetzt wurde, hat wenig mit dem Schutz des NSU oder gar Sympathie für dessen rassistische Motive zu tun. Im Mittelpunkt steht – bei aller Vorläufigkeit – die akute Sorge, es könnte deutlich werden, daß staatliche Instanzen in das NSU-Geschehen auf eine Weise involviert sind, die unter juristischen Gesichtspunkten den Tatbestand der Beihilfe zu Mord erfüllt. Politisch betrachtet müßte dies eine Staatskrise auslösen.
Wolf Wetzel bezweifelte am 5. Mai auf diesen Seiten die offizielle Darstellung vom Selbstmord des NSU-Mitglieds Uwe Mundlos. Wetzel ist Autor des Buchs: Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Unrast Verlag, 2. Auflage, Oktober 2013, auch im jW-Shop erhältlich