Staatliches Schweigekartell (Oury Jalloh)
Staatliches Schweigekartell
Zehn Jahre nach dem Feuertod von Oury Jalloh häufen sich Hinweise auf ein Verbrechen im Dessauer Polizeirevier. Und offenbar gibt es Zeugen. Eine Spurensuche
Von Susan BonathAngekettet in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte er binnen 20 Minuten bis zur Unkenntlichkeit: Am heutigen Mittwoch jährt sich der Tod des Flüchtlings Oury Jalloh zum zehnten Mal. Wieder werden Aktivisten in Dessau mit einer Demonstration an ihn erinnern. Immer mehr Indizien verleihen ihrem Slogan »Oury Jalloh – das war Mord!« Gewicht. Vieles spricht inzwischen für ein Verbrechen. junge Welt hat sich noch einmal auf Spurensuche begeben. Das Ergebnis: Übersehene Fakten, zweifelnde Experten, mauernde Staatsanwälte, offenbar ruhiggestellte Zeugen und ein Blick in politische und menschliche Abgründe.
»Nach allem, was wir heute wissen, muss es im Dessauer Revier eine Person oder mehrere – ich weiß es nicht – gegeben haben, die für die Tat verantwortlich ist«, erklärte Gabriele Heinecke in einem Gespräch mit der Journalistin Margot Overath für ein Ende Oktober ausgestrahltes Radiofeature. Die Hamburger Anwältin vertritt den in Guinea lebenden Bruder des Flüchtlings. Die Aufklärung werde von staatlicher Seite verhindert, sagte sie. »Nach meiner Überzeugung gibt es ein Komplott.« Nadine S. von der Initiative »In Gedenken an Oury Jalloh« sieht das ähnlich. All die Pannen der Ermittler seien keine Versäumnisse, gab sie kürzlich in einem Interview mit einem freien Radiosender zu bedenken. »Es wurde über Jahre vertuscht, manipuliert, gedeckelt.« Daran beteiligt seien nicht nur einzelne Polizisten, sondern Sachsen-Anhalts Justiz, das Innenministerium und der gesamte Polizeiapparat, so S.
Eins steht fest: Die Selbstmordthese, an die sich die Staatsanwaltschaft klammert und an der zwei Gerichte in 125 Verhandlungstagen festhielten, ist ein Konstrukt aus Versatzstücken. Heinecke nennt sie »abenteuerlich«: Der Afrikaner soll sich selbst angezündet haben, mit einem Feuerzeug, das mangels Spuren nie bei ihm und in der Zelle gewesen sein kann. Sein schneller Tod ist ohne Brandbeschleuniger nicht erklärbar. Schädelbrüche deuten auf Misshandlungen hin. Fehlende Streßhormone und kein Kohlenmonoxid in seinem Herzblut legen nahe, dass Jalloh vor dem Brandausbruch bewusstlos oder tot war. Eine – wie sich später ergeben sollte – nicht registrierte Zellenkontrolle kurz vor dem ersten Rauchalarm gibt Rätsel auf. Ein Unbekannter, der vom Fenster des Reviers aus das Eintreffen der Feuerwehr beobachtet hatte und im Urteil des Landgerichts Magdeburg vom Dezember 2012 »fremder Mann mit Brille« genannt wird, wurde nie identifiziert. Eine Aufzeichnung des Landeskriminalamtes von der Tatortbegehung bricht nach vier Minuten ab, weitere Aufnahmen existieren nicht. Blutspuren im Arztraum, eine Flüssigkeitslache in der Zelle wurden weggewischt. Polizeijournale, Fahrtenbücher, eine Handfessel – alles verschwunden.
Fehlende Brandspuren
Im November 2013 hatte sich die Oury-Jalloh-Initiative entschlossen, das den Anwälten der Opferfamilie vorliegende LKA-Filmmaterial im Internet zu veröffentlichen. Knapp ein Jahr später entbrannte unter einem Artikel in Zeit online, der auf die brisanten Aufnahmen hinweist, eine Leserdiskussion. Es ging um eine bisher unbeachtet gebliebene Merkwürdigkeit: Während die Zellenwände ringsherum verrußt sind, fehlen an der Innenseite der Zellentür selbst kleinste Brandspuren.
Es ist schwer, einen Fachmann zu finden, der sich dazu äußern will. Eine Absage folgt der nächsten. Auch Helmut Maier (Name von der Redaktion geändert) will seine Identität nicht preisgeben. Anfang November 2014 schaut er sich den kurzen Film an. Immer wieder stoppt er und notiert etwas. Der 61jährige ist seit 37 Jahren bei der Berufsfeuerwehr. Er habe viele Brände gesehen, auch mit Toten. »Die Angaben der Polizisten können nicht stimmen«, platzt es plötzlich aus ihm heraus. »Alles spricht dafür, dass die Zellentür während des Brandes offengestanden hat.« Der frühere Dienstgruppenleiter Andreas S. und sein Kollege Gerhardt M. hatten dagegen vor Gericht versichert, die Tür elf Minuten nach dem Alarm erstmals geöffnet zu haben. »Unmöglich«, sagt Maier. »Vielleicht haben die Täter sogar zugesehen.« Er schaudert.
Was ist in der Aufzeichnung zu sehen? Der Videograph geht vor der Tatortgruppe. Er richtet die Kamera auf den Hintereingang des Reviers der Kriminalpolizei. Sie schreiten eine Treppe hinunter in den Zellentrakt. Der Boden im Gang ist mit einer dünnen Staubschicht bedeckt. Die Zelle fünf ist die erste rechts. Die Tür ist bis zum Anschlag geöffnet. Wenige Sekunden fokussiert die Kamera ihre Innenseite. Was verwundert: Sie ist blank, anders als die gefliesten Wände in der Zelle. In etwa 50 bis 70 Zentimeter Höhe setzt an diesen abrupt eine dicke Rußschicht an. Der untere Teil ist weiß, bis auf das Stück Wand, an dem die verkohlte Matratze anliegt. »Wäre die Tür zu gewesen, kann sie angesichts der winzigen Zelle und des drastischen Brandbildes nicht so spurenlos geblieben sein«, grübelt Maier. So etwas könne man nicht manipulieren.
Luftzufuhr von außen, damit der Brand nicht nach kurzer Zeit an Sauerstoffmangel erstickt? Das würde auch die Spuren in der Zelle erklären, erläutert Maier. »Rauch steigt auf, bleibt durch Zufuhr kalter Luft oben und verteilt sich nicht nach unten.« Dies könne für die scharfe Abgrenzung an den Wänden gesorgt haben, ebenso für den schweren Brand. Auch Anwalt Philipp Napp, der Jallohs Vater vertritt, wird auf Nachfrage hellhörig. »Das ist in der Tat ein interessanter Aspekt«, sagt er. Bisher sei der nie zur Sprache gekommen.
Der gerichtlich bestellte Brandsachverständige Henry Portz ringt im Anfang November geführten Gespräch mit jW um eine Erklärung. Möglicherweise sei die Lüftungsanlage dafür verantwortlich, spekuliert er. Die habe sich über der Zellentür befunden und »wohl einiges aufgewirbelt«. Aber seltsam sei das schon, überlegt er dann doch, ebenso, wie die völlig verbrannte Matratze und die stark verkohlte Leiche. »Körper brennen nicht so einfach«, gibt er zu bedenken.
Portz führte 2012 Brandversuche durch. Das Magdeburger Landgericht hatte sie auf Druck der Nebenklage angeordnet. Er räumt ein, dass es nicht um eine ergebnisoffene Analyse ging. »Man gab mir konkrete Eingangsgrößen und Fragestellungen vor.« Das Gericht habe nur herausfinden wollen, ob der damals angeklagte leitende Beamte Andreas S. den Brennenden durch schnelleres Handeln hätte retten können. Getestet wurde auch, ob es Jalloh möglich war, mit seiner gefesselten rechten Hand die Matratze zu entflammen. Dazu hätte er den feuerfesten Bezug aufschmelzen und einreißen müssen. Rund fünfzehn Minuten benötigte der Proband im Versuch dafür. Einen Großbrand erzeugte das nicht. Die Flamme ging schnell in ein Glimmen über. Doch wie gelangte das Feuer so schnell von der rechten auf die linke Seite, trotz des Körpers als Hindernis, und konnte so einen gleichmäßigen Abbrand verursachen? Dafür hat Portz keine plausible Erklärung.
Dieses Rätsel hatte auch den irischen Sachverständigen Maksim Smirnou umgetrieben. 2013 erstellte er im Auftrag der Initiative »Im Gedenken an Oury Jalloh« ein weiteres Gutachten. Als bisher erster führte er Brandtests mit einer Schweinehälfte durch, die den Körper eines Menschen simulieren sollte. Die Gewebestruktur der Tiere stimmt zu 90 Prozent mit der menschlichen überein. Vom Ergebnis zeigte sich der Leitende Oberstaatsanwalt in Dessau, Folker Bittmann, Ende 2013 »überrascht«. Danach hätten der Körper und die feuerfeste Hülle ein Übergreifen der Flammen auf die andere Seite der Matratze verhindern müssen. Doch gerade dort hatten sie so gewütet, dass Jallohs Finger abgerissen wurden. Smirnou testete verschiedene Brandbeschleuniger. Ein mit den Tatortfotos vergleichbares Ergebnis erzielte er erst, als er die Oberhülle der Matratze abtrennte, deren Füllstoff und die Schweinehälfte mit fünf Litern Benzin übergoss und anzündete. Das Feuer brach explosionsartig aus.
Feuerball
Ein Feuerball, erzeugt durch Brandbeschleuniger? So könnte es sich zugetragen haben, meint der ehemalige Leiter der Abteilung Chemie/Toxikologie im Züricher Institut für Rechtsmedizin, Peter Iten. Dafür spreche fehlendes Kohlenmonoxid im Herzblut des Opfers. »Er muss vor dem Brand oder sehr rasch nach dessen Ausbruch gestorben sein«, resümierte er gegenüber Margot Overath. Die Journalistin war eigens in die Schweiz gereist, weil sie in Deutschland niemanden gefunden habe, der sich mit dem Fall beschäftigen wollte, sagt sie im November zu jW. Da Jalloh laut Obduktionsbericht etwas Ruß in Lunge und Magen hatte, komme nur letzteres in Frage, erläuterte der Experte. Bricht ein Feuer explosionsartig aus, entstehe große Hitze. »Dann setzt die Atmung durch Krämpfe reflektorisch aus.« Geringe Mengen Ruß könnten noch verschluckt werden. Kohlenmonoxid einzuatmen sei nicht mehr möglich. Nur so lasse sich der Nullwert erklären.
Der schnelle Tod hatte schon das Magdeburger Landgericht beschäftigt. Dessen Version im Urteil vom Dezember 2012 lautet so: Jalloh habe sich nach der Selbstanzündung wohl über die Flammen gebeugt, um sie auszublasen, und so einen inhalativen Hitzeschock erlitten. Die Theorie steht in den Akten, auch wenn Mediziner dagegengehalten hatten. Die Position, in der die Leiche gefunden wurde, passe nicht dazu. Jalloh hätte nach vorne oder zur Seite fallen müssen, hieß es. Sonst hätte er sich nach seinem Tod von der Wand fortbewegen und rücklings ausstrecken müssen.
Der Nachweis von Brandmitteln könnte ein Tötungsverbrechen bestätigen. Staatliche Behörden haben allerdings kein Interesse, in diese Richtung zu ermitteln. Die Staatsanwaltschaft ließ den Brandschutt unmittelbar nach dem Feuer gar nicht darauf untersuchen. Die Asservatentüten gelangten Tage später ungesichert ins Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt. Dort tauchte das verschmorte Feuerzeug auf – das Beweismittel schlechthin, das noch gefehlt hatte. Die Selbstmordthese stand.
In diesem Frühjahr waren die Dessauer Staatsanwälte jedoch unter Zugzwang geraten: Nach einer Strafanzeige der Initiative und Smirnous Gutachten leiteten sie Ermittlungen ein. Der Verdacht: Mord oder Totschlag. Gesprächig ist die Behörde nicht. In ihrer einzigen diesbezüglichen Pressemitteilung heißt es am 3. April 2014: Experten hätten den Schutt nochmals untersucht, aber keine Rückstände von Brandmitteln gefunden. Auch nach über neun Jahren sei dies problemlos möglich. Peter Iten zweifelt daran: »Daraus kann man keine Schlüsse ziehen«, rügte er. Nichts zu finden, heiße nicht, dass da nichts sei. »Das Mittel kann verdampft oder die Nachweismethode falsch sein.«
Zu weiteren Nachfragen schweigen die Staatsanwälte beharrlich. Nur durch penetrantes Nachhaken und Erinnern an die Auskunftspflichten gegenüber der Presse ließ sich Behördensprecher Christian Preissner eine Reaktion von jW abringen. Am 3. November 2014, fast einen Monat nach der ersten Anfrage, schrieb er: »Zu laufenden Ermittlungen werden keine Einzelergebnisse mitgeteilt.« Der Abschluss des Verfahrens bleibe abzuwarten. Wann damit zu rechnen ist, offenbarte er nicht. Verwunderlich: In der Anfrage ging es in den meisten Punkten gar nicht um aktuelle Ermittlungen, sondern vor allem um die fehlenden Brandspuren an der Zellentür und die brisanten Aussagen von Fachleuten. Am wichtigsten jedoch: Es gibt Hinweise darauf, dass mutmaßliche Zeugen mehr über eine möglicherweise beteiligte dritte Person wissen könnten.
»Gefährliche Kreise«
So soll sich der Dessauer Justizangestellte N. mehrfach an die Polizei gewandt und beteuert haben zu wissen, dass der inzwischen pensionierte Polizeibeamte S. für die Brandlegung verantwortlich sei. Das geht aus Unterlagen hervor, die Anwältin Heinecke vorliegen. Danach arbeitete der von N. Angeschuldigte vor seiner Polizeikarriere in einem Dessauer Chemiewerk, in dem u. a. Brandmittel produziert wurden. Er war auch bei der Dessauer Berufsfeuerwehr aktiv. Denn 2013 gratulierte die ihrem Kameraden im Amtsblatt zum 65. Geburtstag. Weder die eine noch die andere Tätigkeit allerdings hatte S., als er vor Gericht um Angaben zu seiner beruflichen Laufbahn gebeten wurde, erwähnt. Doch statt den Anzeigen nachzugehen, sei ein Disziplinarverfahren gegen N. geführt worden. Ob das stimme, wollte Heinecke im August von Staatsanwalt Preissner wissen. Eine Antwort bekam sie darauf ebensowenig wie jW. Auch N. hüllt sich auf Nachfragen in Schweigen: kein Treffen, kein Kommentar.
Die Journalistin Overath präsentierte in ihrem Radiofeature ein weiteres Ergebnis ihrer Recherche. Ein pensionierter Kriminalist aus Halle hatte sie kontaktiert und ihr ein Foto eines Mannes mit Hund vorgelegt: Ein »Hinweisgeber« habe es ihm zugespielt, mit den Worten, der Abgebildete sei mutmaßlich in die Tat involviert. »Jemand« habe Jalloh eine »Lektion« erteilen wollen, die »aus dem Ruder gelaufen« sei, so seine Botschaft. Und weiter: Der Brandleger sei von wachhabenden Polizisten benachrichtigt worden und von außen in den Gewahrsam eingedrungen. Den Zahlencode der Hintertür des Reviers habe jeder Beamte gekannt. Es sei »um Rassismus und sexuelle Demütigung« gegangen. Der Mann auf dem Foto, ein Polizist im Ruhestand, sei der »Schlüssel«. Er habe in »entsprechenden Kreisen« verkehrt, dort, wo es »gefährlich« werde.
Tatsächlich – Jallohs Unterleib war besonders stark verkohlt. Außerdem war sein T-Shirt weit nach oben gezogen. Reste davon klebten an seinem Hinterkopf. Bei der mysteriösen, nicht registrierten Zellenkontrolle sah der Zeuge Torsten B. das spätere Todesopfer »regungslos mit heruntergelassener Hose« daliegen. Einer der Polizisten, die Jalloh in der Gegenwart von B. durchsuchten, war der von N. angeschuldigte Polizist S. Kurz darauf, etwa 15 Minuten vor Brandausbruch, vernahm die Beamtin Beate H. durch die Gegensprechanlage »Schlüsselklappern« im Zellentrakt. Sie schaute nach, doch niemand sei dagewesen.
Rassistische Beamte
Eine rassistische Gewaltorgie? Der aus Sierra Leone stammende Afrikaner war Vater eines damals dreijährigen Sohnes. Die Mutter, eine Dessauerin, hatte das Kind auf Drängen ihrer Eltern ohne Jallohs Einwilligung zur Adoption freigegeben. Der Flüchtling hatte versucht, seinen Sohn zurückzuholen, ohne jede Chance auf Erfolg. Er verkehrte im Dessauer Telecafé von Mouctar Bah, der später die Oury-Jalloh-Initiative gründete. Regelmäßig tauchte dort die Polizei auf. Waren die Beamten nicht gut auf Jalloh zu sprechen, weil sie ihn öfter mit Drogen erwischt hatten oder gar, weil er ein Kind mit einer Weißen hatte?
Das Verhältnis der Dessauer Polizei zu den Flüchtlingen wird in zahlreichen Zeitungsartikel um die Jahrtausendwende deutlich. Darin ist von regelrechten Jagden auf Schwarze im Stadtpark die Rede. Auch Obdachlose standen offenbar im Visier von Polizisten: 1997 brach Hans-Jürgen R. wenige Minuten nach seiner Entlassung aus einer Ausnüchterungszelle tot zusammen. Schwere innere Verletzungen, lautete der Autopsiebefund. Ende 2002 folgte Mario B., gestorben in Zelle 5 an einem Schädelbruch. Wie später bei Oury Jalloh hatte der Revierarzt Andreas B. auch ihn für hafttauglich erklärt.
Im Zuge des Magdeburger Prozesses wurden 2012 brisante Akten aus den Jahren vor Jallohs Tod der Öffentlichkeit bekannt. Aus diesen geht hervor, dass die Polizeidirektion Stendal Dessauer Beamten »Fremdenfeindlichkeit« vorgeworfen hatte. Die Papiere waren seinerzeit dem bis 2006 amtierenden Innenminister von Sachsen-Anhalt übergeben worden: Klaus Jeziorsky, CDU. Der verstaute sie offenbar stillschweigend in einer Schublade. Das Innenministerium war es auch, das am 7. Januar 2005 gegen 14 Uhr intern gemeldet hatte, in Dessau habe sich »ein Afrikaner selbst angezündet« – zwei Stunden, bevor die Spuren am Tatort gesichert wurden.
Exinnenminister Jeziorsky kannte sich mit Neonazis bestens aus. In seinem Wohnort Pretzien bei Schönebeck (Elbe) trieb die »Kameradschaft Ostelbien« jahrelang ihr Unwesen. Anfang der 2000er Jahre taufte sie sich in »Heimatbund Ostelbien« um. Der »Verein« gab sich bürgernah, organisierte Dorffeste. Bei einer Sonnenwendfeier 2006 kam es zum Eklat: Das Tagebuch von Anne Frank landete im Feuer. Danach wurde bekannt: Jeziorsky selbst war Mitglied der Gruppe. Die Mitteldeutsche Zeitung zeigte ein Foto von ihm und den braunen »Kameraden«. Demnach hatte er veranlasst, die Beobachtung des »Heimatbundes« einzustellen. Bemerkenswert: In dem 900-Einwohner-Ort lebten neben dem damaligen Innenminister gleich sechs Mitarbeiter des Verfassungsschutzes. Alle hatten zumindest weggeschaut. Zwei Jahre später, 2008, berichtete die überregionale Presse von einer »Polizeiaffäre« in Sachsen-Anhalt. Neuer Innenminister war Holger Hövelmann (SPD). Ihm flogen Unterlagen aus dem Jahr 2005 um die Ohren. Demnach hatte ein Polizeioberrat aus Halle (Saale) in einer Dienstbesprechung zum Fall Jalloh geäußert: »Schwarze brennen eben länger«. Der Beamte kam mit der mildesten Strafe davon: einem Verweis.
Und heute? Der unaufgeklärte Tod Jallohs lässt die Gerüchteküche brodeln. So erreichte die Initiative im November der Brief eines in der Justizvollzugsanstalt Burg Inhaftierten. Der Gefängnisangestellte H. werde verdächtigt, für den Brand mitverantwortlich zu sein. Einigen Häftlingen aus Dessau sei er als früherer Polizist »einschlägig bekannt«. Man habe ihn zudem bei einer Fernsehübertragung der Revisionsverhandlung im September in Karlsruhe gesichtet, bei welcher der Bundesgerichtshof das Magdeburger Urteil vom Dezember 2012 bestätigte – eine Geldstrafe von 10.800 Euro gegen den früheren Dienstgruppenleiter Andreas S. wegen »fahrlässiger Tötung«. H. habe sich im Publikum aufgehalten. Jedoch konnte die Initiative nicht weiter helfen: Der Name des Bediensteten tauchte bisher nirgendwo auf. Kein Wunder: Die Dienstpläne von damals sind verschwunden.
»Wir stoßen immer wieder an Mauern«, resümiert Mouctar Bah. Die Hoffnung auf staatliche Ermittler hätten er und die Initiative aufgegeben. Sie ermitteln selbst. Nach einer eigens veranlassten Obduktion im Frühjahr 2005, bei der Schädelbrüche diagnostiziert wurden, sowie dem Brandgutachten von 2013 sammeln die Aktivisten nun Spenden für ein toxikologisches Gutachten. Vor allem wollen sie wissen: Stammen die im Blut des Opfers gefundenen Chemikalienrückstände von Brandbeschleunigern? 9.000 Euro benötigen sie dafür. Man habe ein »erfahrenes Expertenteam aus London beauftragt«, erklärt Bah. In Deutschland habe sich niemand mit dem Fall beschäftigen wollen. »Die hören den Namen Oury Jalloh und lehnen sofort ab.«
Am 18.1.2013 schrieb Susan Bonath auf diesen Seiten darüber, wie die Dessauer Behörden versuchten, die Selbstmordthese im Fall Oury Jalloh aufrechtzuerhalten.