Tod am Fest der Dreifaltigkeit
Tod am Fest der Dreifaltigkeit
Von RAIMUND NEUSS
Kölnische Rundschau
14.10.2003 21:22 Uhr
BONN. Sanja Milenkovic wurde 15 Jahre alt. Sie starb am Fest der Heiligen Dreifaltigkeit, dem 30. Mai 1999, als die Nato im Kosovo-Krieg eine Brücke im serbischen Städtchen Varvarin mit Raketen zerstörte. Ihr Vater Zoran, Mathematikprofessor und Bürgermeister von Varvarin, glaubt fest daran, dass Sanja jetzt im Himmel bei den Engeln lebt. Zoran Milenkovic denkt aber auch an den Piloten, der sie umgebracht hat. Er fragt sich, ob der Pilot ruhig schlafen kann. Zoran Milenkovic meint, dass der Pilot ihm ja wenigstens anonym einen Brief hätte schreiben können.
Die Nato teilt nicht mit, aus welchem Land die Kampfflugzeuge kamen, die den Angriff flogen. Die Opfer sehen ihn als Kriegsverbrechen, während der frühere SPD-Abgeordnete Hans Wallow, der das Geschehen untersucht hat, von einem tödlichen Fehler ausgeht. Zoran Milenkovic und 34 andere Bürger von Varvarin haben Deutschland als einen der kriegführenden Staaten auf Schadenersatz verklagt. Dem Bürgermeister geht es um die einzige Chance, den Tod seiner Tochter gerichtlich untersuchen zu lassen. Heute beginnt vor dem Landgericht Bonn der Prozess um den Tod von zehn Menschen in Varvarin; 17 weitere wurden damals schwer verletzt.
Die Leute von Varvarin hatten sich sicher gefühlt, weit entfernt von Belgrad und vom Kosovo. Die Milenkovics hatten ihre Tochter vom Gymnasium in Belgrad zurück nach Hause geholt. Zwar kreisten am 30. Mai schon um 10 Uhr Flugzeuge über der Stadt, aber das kam oft vor. Bomben waren noch nie gefallen. Es gab keine Soldaten in der Stadt, und die alte Stahlbrücke über die Große Morava hielt nur acht Tonnen Last aus – zu wenig für Militärkonvois. Es war Sonntag und einer der höchsten orthodoxen Festtage. Sanja ging mit zwei Freundinnen in die Kirche und dann auf den Sonntagsmarkt. Die Mädchen wollten nach Hause ans andere Flussufer, als um 13 Uhr die ersten Raketen einschlugen.
Warum nur diese Brücke? Die Nato sprach noch in einer Dokumentation vom 31. Oktober 1999 von einer „Highway Bridge“, also der Brücke einer Fernstraße. So eine Brücke gebe es 15 Kilometer entfernt, sagt Wallow; über sie führe die Straße ins Kosovo. Eine Verwechslung? Oder ein Angriff, um die Bevölkerung einzuschüchtern? Das meint Harald Kampffmeyer, der mit Freunden 110 000 Euro gesammelt und den Prozess damit möglich gemacht hat. Haben die Piloten oder Waffensystemoffiziere nicht gesehen, dass Tausende in der Stadt waren? Der alte Luftwaffensoldat Wallow erinnert an das übliche Zielverfahren: Luftaufnahmen, gefertigt meist vom deutschen Aufklärungsgeschwader „Immelmann“, wurden in satellitengestützte Steuerungssysteme eingespeichert; anhand dieser Fotos – nicht aktueller Videoaufnahmen – peilten die Besatzungen ihre Ziele an.
Das mag den ersten Angriff um 13 Uhr erklären, der drei Menschen tötete, aber nicht das, was danach passierte. Spätestens jetzt, das sagt auch Hans Wallow, hätten die Soldaten die Situation erfassen müssen: Die Brücke war zerstört, ein Auto mit zwei Insassen lag im Fluss, die Ufer waren voller Menschen. Sanja lebte noch und hockte auf einem Trümmerteil dicht über der Wasseroberfläche. Aus der Stadt kam der alte Tola Apostolovic gelaufen, den sie wegen seiner Herkunft den „Griechen“ nannten, und wollte den Leuten im Wasser helfen. Auch Vojkan Stankovic wollte helfen, von dem seine Witwe Gordana immer wieder erzählt, dass er ihrer Tochter der beste Vater der Welt war. Um 13.06 Uhr kam die zweite Angriffswelle. Sieben Menschen starben, darunter Tola und Vojkan. Sanja konnte man noch ins Krankenhaus bringen, aber nicht mehr retten. Tolas Witwe, die Krankenschwester Jasmina Zivkovic, kann sich an kein vergleichbares Blutbad erinnern. Dass ihr Mann unter den Toten war, erfuhr sie erst später.
Kein Vertreter eines Nato-Staats hat sich jemals in Varvarin gemeldet. Bürgermeister Milenkovic wirbt heute dafür, dass sich Serbien und Montenegro der EU anschließen. Er gehörte zur Opposition gegen den serbischen Staatschef Milosevic. Seine Familie sieht er „stellvertretend für Milosevic bestraft“. Und er möchte wissen, warum.
(KR)
Rechtsstreit
Klagen auf Entschädigung für Kriegsschäden hatten bisher nie Erfolg. Zwar bewerten die Kläger den ohne UN-Mandat geführten Kosovo-Krieg als „schweren Verstoß gegen internationales Recht“, aber völkerrechtliche Fragen zählen vor Zivilgerichten bisher nicht. Nicht einmal für das SS-Massaker im griechischen Distomo 1944 gestand der Bundesgerichtshof Entschädigungsansprüche zu.
Die Bundesrepublik argumentiert nach Darstellung ihres Vertreters, des Berliner Rechtsanwalts Ulrich Karpenstein von der Sozietät Redeker: „Kriegsschäden begründen grundsätzlich keinen Anspruch auf individuelle Entschädigung.“ Solche Ansprüche würden grundsätzlich durch internationale Verträge zwischen den betroffenen Staaten geregelt, die etwa Reparationszahlungen vorschreiben können, aber nicht durch Prozesse, die von Privatpersonen geführt werden. Dem widerspricht Gül Pinar, die Anwältin der Opfer: Bei „neueren westlichen Kriegen“ gebe es keine Friedensverträge – die Opfer könnten also nur per Klage zu ihrem Recht kommen.
Ein zweiter Punkt von Karpensteins Argumentation lautet: Selbst wenn man wegen Kriegsschäden klagen könnte, wäre die Bundesrepublik der falsche Prozessgegner. Es „waren keine deutschen Flugzeuge am Angriff auf Varvarin beteiligt“. Gül meint, die Bundesrepublik hafte „gesamtschuldnerisch“ als an den Entscheidungen aktiv beteiligtes Nato-Mitglied. Solche Ansprüche nur aufgrund einer Nato-Mitgliedschaft „ohne Nachweis eines konkreten Fehlverhaltens“ lehnt Karpenstein ab. (rn)
(KR)