Tod im Mittelmeer
Tod im Mittelmeer
Von Knut Mellenthin, Junge Welt, 10. Mai 2011
NATO-Kriegsschiffe haben ein Boot mit afrikanischen Flüchtlingen 16 Tage
lang hilflos im Mittelmeer treiben lassen. Von 72 Menschen überlebten nur
neun. Über das bisher von westlichen Medien ignorierte Drama berichtete am
Sonntag abend erstmals die britische Tageszeitung The Guardian. Nach den
Erkenntnissen des Londoner Blattes war das Flüchtlingsschiff am 25. März im
Hafen der libyschen Hauptstadt Tripolis gestartet, um die rund 300 Kilometer
entfernte italienische Insel Lampedusa zu erreichen. An Bord befanden sich
47 Äthiopier, sieben Nigerianer, sieben Eritreer, sechs Ghanaer und fünf
Sudanesen. Unter den Passagieren waren zwanzig Frauen und zwei kleine
Kinder.
Nach 18 Stunden Fahrt geriet das kleine Schiff in Seenot und verlor
Treibstoff, heißt es im Guardian-Bericht. Mit einem Satellitentelefon
informierten Flüchtlinge den in Rom lebenden eritreischen Priester Moses
Zerai. Der Pater alarmierte die italienische Küstenwache, die die Lage des
Bootes feststellte und Zerai versicherte, daß alle zuständigen Stellen
unterrichtet worden seien.
Tatsächlich tauchte wenig später ein mit dem Wort »Army« beschrifteter
Hubschrauber über dem Flüchtlingsschiff auf. Die Besatzung ließ
Wasserflaschen und Pakete mit Keksen herab und gab dem Kapitän durch Zeichen
zu verstehen, er solle auf Kurs bleiben und die Ankunft eines
Rettungsschiffs abwarten. Dieses erschien jedoch nicht. Bei der NATO war
bisher nicht zu ermitteln, zu welchen Streitkräften der Hubschrauber
gehörte.
Am 27. März war der Treibstoff verbraucht, es waren kaum noch Wasser und
Nahrung vorhanden, und das Schiff trieb nur noch mit den Strömungen. Am 29.
oder 30. März befand sich das Boot in Sichtweite eines Flugzeugträgers. Nach
Angaben von Überlebenden stiegen zwei Düsenjäger auf und überflogen das Boot
in niedriger Höhe, während die Flüchtlinge ihnen verzweifelt zuwinkten. Auch
jetzt kam jedoch keine Hilfe.
Nach Guardian-Recherchen handelte es sich vermutlich um den französischen
Flugzeugträger Charles de Gaulles, der zu diesem Zeitpunkt dort operierte.
Französische Marinestellen bestritten gegenüber der Zeitung zunächst, daß
sich der Träger zur fraglichen Zeit in diesem Gebiet befunden habe. Als die
Journalisten anhand von Meldungen das Gegenteil bewiesen, verweigerten die
Franzosen jeden weiteren Kommentar. Ein NATO-Sprecher erklärte der Zeitung,
daß bei der Allianz keine Notrufe des Flüchtlingsbootes eingegangen seien
und daß es keine Berichte über diesen Zwischenfall gebe.
Während der folgenden zehn Tage starben die meisten Insassen des Schiffs an
Durst und Hunger. Als das Boot am 10. April wieder an die libysche Küste
getrieben wurde, lebten nur noch elf Menschen. Einer von ihnen starb
unmittelbar nach der Landung, ein weiterer wenig später im Gefängnis, wohin
die Überlebenden zunächst gebracht worden waren.
Das internationale Recht verpflichtet alle Nationen, Schiffbrüchigen zu
Hilfe zu kommen. Darüber hinaus rechtfertigt die westliche Militärallianz
ihren Krieg gegen Libyen ausdrücklich mit dem Schutz und der Rettung von
Menschenleben.