Ungleichheit boomt
Ungleichheit boomt
Ralf Wurzbacher, Junge Welt, 30.9.2014
Die Einkünfte von Konzernchefs sind um vieles höher, als der Normalbürger zu denken wagt. Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander
Von Ralf Wurzbacher
Was denkt der Normalsterbliche, wie Topmanager so bezahlt werden? »Zuviel« oder »mehr als genug« – soviel dürfte sicher sein. Zwei Forscher in den USA wollten es genauer wissen und sind der Sache in einer Studie auf den Grund gegangen. Sie werteten Daten des globalen sozialwissenschaftlichen Umfrageprogramms ISSP (International Social Survey Programme) vom Dezember 2012 mit über 55000 Einzelbefragungen in 40 Staaten aus und stießen auf nichts als Blauäugigkeit. Ihr Befund: Zwischen dem, was sich die Menschen unter Spitzengehältern vorstellen, und den tatsächlich erzielten Einkünften liegen Welten.
Beispiel Deutschland: Nach der Einschätzung der hierzulande Befragten kommen die Vorstände der 30 DAX-Konzerne jährlich auf ein 16,7mal so hohes Einkommen wie ein ungelernter Hilfsarbeiter (Vollzeit, sozialversichert). Weit gefehlt: In Wirklichkeit »verdienen« die Unternehmenslenker 147mal soviel. Den Wert haben die Forscher auf Grundlage von Zahlen der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) errechnet. Danach haben sich die sogenannten CEOs (Chief Executive Officers, Vorstandschefs) von Deutschlands führenden Aktiengesellschaften zuletzt im Schnitt 5,9 Millionen Dollar (4,6 Millionen Euro) genehmigt. Die hiesige Presse schrieb jüngst gar von im Mittel 5,1 Millionen Euro. Ganz vorne landete dabei VW-Chef Martin Winterkorn mit 15 Millionen Euro.
Nimmt man das allgemeine Gerechtigkeitsgefühl zum Maßstab, ist das mehr als obszön. Die beiden Wissenschaftler haben auch danach gefragt, wie eine wünschenswerte, also für angemessen erachtete Vergütung eines CEOs aussehen sollte. Nach ihren in der Vorwoche in der Fachzeitschrift Harvard Business Review veröffentlichen Ergebnissen meint der Durchschnittsdeutsche, daß einem Konzernboß lediglich das 6,3fache des Lohnes eines Ungelernten zustehen dürfe. Das entspricht dem weltweiten Bild. In jedem der untersuchten Länder sind die Menschen durchgängig der Ansicht, Topverdiener bedienten sich weit Übergebühr.
Allerdings hat Deutschland auf der Ungerechtigkeitsskala inzwischen einen Platz an der Weltspitze inne. Nach OECD-Angaben scheffeln CEOs nur in der Schweiz (7,4 Millionen Dollar) und den USA (12,2 Millionen Dollar) noch mehr Geld. In punkto Mißverhältnis beim Verdienst von Konzernchefs gegenüber Ungelernten schafft es Deutschland sogar auf Rang zwei. Spitzenreiter sind auch hier die Vereinigten Staaten: Dort schätzen die Bürger, die Topverdiener erhielten das knapp 30fache eines einfachen Arbeiters, und wünschen sich, es wäre nur das knapp siebenfache. Faktisch lassen sich US-amerikanische CEOs 354 mal soviel bezahlen wie ein »unskilled factory worker«.
Süddeutsche.de titelte in der Vorwoche zum Thema: »So überraschend viel verdienen DAX-Vorstände«. Aus heiterem Himmel kommt die Entwicklung jedoch nicht. Das Phänomen der immer reicher werdenden Reichen ist seit Jahrzehnten eine Konstante in Deutschland. Mit der »Wiedervereinigung« und später der »Agenda 2010« ging der Reibach aber erst richtig los. Laut dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hat sich seit Beginn der 1990er Jahre »die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen in der Bundesrepublik stetig weiter geöffnet«. Dabei widersprechen die Forscher in einer aktuellen Studie auch dem Eindruck, der Trend wäre zum Erliegen gekommen. Vielmehr sei der Anstieg der Ungleichheit durch die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 bis 2010 lediglich unterbrochen worden.
Politiker und Wirtschaftsverbände behaupten dagegen gerne, der Rückgang der Arbeitslosigkeit und die Bewältigung der Krise hätten eine weitere Zunahme der Ungleichheit verhindert. Laut IMK haben sich die Arbeitseinkommen allerdings auch von 2005 bis 2010 »weiterhin auseinanderbewegt«, wenn auch schwächer als zuvor. Ursächlich dafür sei vor allem die Verbreitung atypischer Beschäftigung, also von Teilzeit- und geringfügig bezahlten Jobs, wodurch nach 2008 »wieder spürbar ungleichheitserhöhende Effekte« ausgegangen seien. Die kurze »Pause« beim Auseinanderdriften von Arm und Reich hat dem IMK zufolge allein mit dem vorübergehenden Einbruch bei den Kapitaleinkünften in der Hochzeit der Krise zu tun.
Ab 2012 müsse wieder mit einem Anstieg der Einkommensungleichheit gerechnet werden, »da die Unternehmens- und Vermögenseinkommen im Zuge der gesamtwirtschaftlichen Erholung seit 2012 wieder überproportional steigen«, heißt es im IMK-Report vom September. Bestätigt wird diese Sichtweise durch die Entwicklung des sogenannten Gini-Koeffizients, eines wissenschaftlich anerkannten Maßes für Ungleichheit. Nach einem rasanten Anstieg bis 2005 und darauffolgendem leichten Rückgang in den Krisenjahren legte er 2011 – dem letzten Jahr, zu dem Zahlen vorliegen – nach Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wieder zu.
Die Verwerfungen lassen sich indessen auch plastischer dokumentieren. Eine weitere aktuelle Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung befaßt sich mit den Managerrenten. Demnach können sich die deutschen Konzernführer auf eine im Schnitt 250mal so hohe Betriebspension freuen wie ein Normalbeschäftigter im entsprechenden Unternehmen. Allein dem Vorstandsmitglied des Pharmahändlers Stada Hartmut Retzlaff winken im Alter 35 Millionen Euro, für Daimler-Chef Dieter Zetsche werden 29,9 Millionen und für VW-Boss Winterkorn 22,1 Millionen Euro auf die hohe Kante gelegt. Die Rückstellungen aller DAX- und MDAX-Konzerne für amtierende und ehemalige Vorstände belaufen sich auf 4,8 Milliarden Euro.