Vertreibung von Armenier aus Syrien
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04.04.2014 / Titel / Seite 1
Armenier auf der Flucht
Regierungen in Moskau und Jerewan verurteilen dschihadistische und von türkischen Truppen unterstützte Angriffe auf mehrheitlich armenisch besiedelte syrische Kleinstadt Kasab
Von Nick Brauns
Dschihadisten nach der Einnahme der vormals mehrheitlich von Armeniern bewohnten syrischen Stadt Kasab
Foto: AP Photo/Shaam News Network via AP video
Die Regierungen Rußlands und Armeniens schlagen nach der Vertreibung der armenischen Bewohner einer syrischen Kleinstadt durch von der Türkei unterstützte dschihadistische »Gotteskrieger« Alarm. Kämpfer der zu Al-Qaida gehörenden Al-Nusra-Front sowie der Verbände Sham Al-Islam und Ansar Al-Sham waren am 21. März von der Türkei aus nach Syrien eingedrungen und hatten die mehrheitlich armenisch besiedelte Kleinstadt Kasab im Nordwesten des Landes sowie christliche Dörfer in ihrer Umgebung unter Beschuß genommen. Vergeblich versuchten örtliche Selbstverteidigungsmilizen, die von syrischen Regierungstruppen unterstützt wurden, die strategisch wichtige Grenzstadt zu halten. Die türkische Armee gab den Dschihadisten, unter denen sich zahlreiche Ausländer einschließlich Türken und Tschetschenen befinden sollen, mit Panzern und Artillerie Feuerschutz. Ein syrisches Kampfflugzeug, das die »Gotteskrieger« zurückdrängen sollte, wurde am 23. März von der türkischen Luftwaffe abgeschossen und stürzte bei Kasab ab.
Rund 2000 Armenier sowie alawitische Bewohner von Kasab sind in die 60 Kilometer entfernte, noch von syrischen Regierungstruppen gehaltene Hafenstadt Latakia geflohen. Wer in Kasab zurückblieb, wurde von den Dschihadisten ermordet oder zur Konversion zum Islam gezwungen, behauptet der Zentralrat der Armenier in Deutschland (ZAR). Auf russischen Internetportalen wie dem Onlinekanal LiveNews.ru ist ein Video zu sehen, das angeblich eine Massenerschießung von Armeniern in Kasab zeigt. Zu sehen sind vermummte Kämpfer, die vor ihnen kniende Männer in Militärkleidung – möglicherweise Milizangehörige – mit Genickschüssen töten. Die Authentizität der Aufnahmen konnte bislang nicht bestätigt werden. Armenische Vereinigungen in Europa und den USA berichten unter Berufung auf Augenzeugen von der Plünderung armenischer Häuser, Geschäfte und Kirchen in Kasab. Der armenische Premierminister Tigran Sargsjan forderte die UN auf, den Schutz und die Rückkehr der Bewohner von Kasab sicherzustellen. Das russische Außenministerium verurteilte die Angriffe auf die armenische Bevölkerung und verwies darauf, daß die Panzer und Geschütze aus der Türkei stammten.
Kasab ist seit der Zeit des historischen Kleinarmenien unter König Tigranes II. im ersten Jahrhundert vor unserer Zeit armenisch besiedelt. Die heutigen Bewohner sind Nachfahren von Überlebenden des Völkermordes, den das jungtürkische Regime während des Ersten Weltkrieges an den Armeniern im Osmanischen Reich verübte. 1915 wurden die armenischen Einwohner der Region in die syrische Wüste bei Deir ez-Zor oder nach Jordanien deportiert. Als Kasab nach dem Ersten Weltkrieg dem französischen Mandatsgebiet Syrien zugeschlagen wurde, konnten die Überlebenden in ihre Heimat zurückkehren. »Erneut – nach fast 100 Jahren – sind die Bewohner zur Zielscheibe türkisch-nationalistischer Intentionen geworden«, klagt Nazareth Agheguian, der Vorsitzende des Zentralrates der Armenier in Deutschland (ZAG), und verweist auf die Unterstützung von »Al-Qaida durch den NATO-Partner Türkei«.
Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu wies unterdessen Berichte über eine türkische Unterstützung der Dschihadisten als »grundlos« zurück. Nach Angaben syrischer Oppositionsgruppen bombardierte die syrische Luftwaffe am Donnerstag einen Stützpunkt der Dschihadisten bei Kasab.