Warten auf die Todessalven
Warten auf die Todessalven
Israelischer Soldat
Hebräischer Text in NIM’AS, September 1967. Es handelt sich bei dieser Zeitschrift um eine Jerusalemer Publikation von Matzpen (siehe Klartexte, Heft 1). Eine gekürzte englische Übersetzung erschien am 10. November 1967 in der Londoner Zeitschrift PRIVATE EYE.
Jeden Abend liegen entlang dem Jordan israelische Soldaten im Hinterhalt. Jede Nacht schießen sie auf alles, was sich im Dunkeln bewegt. Jeden Morgen liegen Leichen im Jordan, Männer, Frauen, Kinder, ganze Familien, die in der Nacht beim Versuch, ohne den ersehnten israelischen Passierschein nach Hause zurückzukehren, niedergemetzelt wurden.
Schwer zu glauben, daß sich die israelische Armee dem Morden hingibt. Aber jeder, der sich die Mühe macht, mit Soldaten. der Besatzungseinheiten zu reden, wird bemerken, daß sie dies für beinahe selbstverständlich ansehen. Ihre Erzählungen, insbesondere ihr tatsächliches Verhalten, müssen jeden schockieren, der noch ein Herz hat. Die Presse, Journalisten und Schriftsteller, deren Pflicht es überall in der Welt ist, zu protestieren und die Öffentlichkeit zu mobilisieren, versagen. Die Presse schweigt. Die Journalisten sind damit beschäftigt, Bücher über den Krieg der ‘Söhne des Lichtes’ zu schreiben. Schriftsteller, Intellektuelle und rabbinische Persönlichkeiten gründen Komitees zu Förderung der Annexion der ‘befreiten’ Gebiete. Sie schmökern in verstaubten Büchern, um das ‘unumstößliche Recht’ zur Einverleibung von Schiloh, Anatot, Kuneitra und des Suezkanals zu beweisen.
Diese Schrift wird in der Absicht veröffentlicht, die Verschwörung des Schweigens, die für das Gewissen der Nation so förderlich ist, zu brechen. Sie bietet eine Antwort auf die Frage, die jedes Jahr am Holocaust-Tag zum Gedenken an die Opfer der Nazi-Verbrechen neu gestellt wird: Wie konnte ein ganzes Volk zu Mordkomplizen werden? Soldat, wenn Du solchen Befehlen nicht den Gehorsam verweigerst, bist Du ein Mörder. Bürger, wenn Du nicht von dieser Stunde an dafür eintrittst, daß solche Befehle verhindert werden, bist Du ein Mordkomplize. Und genauso wenig wie die Deutschen wirst Du Dich später auf das ‘Ich wußte es nicht’ berufen können.
Dies ist ein Augenzeugenbericht eines Soldaten, der anonym bleiben möchte, über die nach dem Krieg unter Flüchtlingen angerichteten Massaker. Sein Bericht wurde von anderen Soldaten bestätigt, deren Namen wir kennen, aber aus dem gleichen Grund nicht preisgeben können. Der Bericht betrifft den Jordan-Abschnitt zwischen Jarmuk und Allenby-Brücke. Der Zeitpunkt: Ende Juli und Anfang August (1967).
"Jede Nacht überqueren Araber den Jordan von Osten nach Westen. Wir blockierten die Obergänge, also Stellen, wo das Wasser seicht ist und der Fluß zu Fuß überquerbar ist, und wir hatten Befehl, ohne Vorwarnung tödliche Schüsse abzugeben. Wir haben jede Nacht Schüsse abgefeuert, auf Männer, Frauen und Kinder. Auch während mondheller Nächte, wo wir die Leute identifizieren, das heißt Männer, Frauen und Kinder unterscheiden konnten. Am Morgen suchten wir das Gelände ab und erschossen, auf ausdrücklichen Befehl des anwesenden Offiziers, die noch Lebenden, einschließlich derer, die verwundet waren oder sich versteckt hatten. Anschließend bedeckten wir die Erschossenen mit Erde, manchmal ließen wir sie auch liegen bis ein Bulldozer kam, um sie zu begraben. Einige dieser Leute sind Geheimagenten, einige sind bewaffnete Infiltranten, einige sind Schmuggler, aber die meisten sind ehemalige Einwohner der Westbank, die keine israelische Rückkehrerlaubnis erhalten haben.
Es gab einige Fälle, die ich nie vergessen werde. Eines Morgens fanden wir zwei unverletzte Männer. Der Offizier gab den Befehl, sie zu töten, und wir erschossen sie an Ort und Stelle. Einmal fanden wir zwei an den Beinen verwundete Männer. Wir sprachen mit ihnen, nahmen ihnen die Papiere ab, und dann ordnete der Offizier an, sie zu erschießen. Sie sahen an unseren Gesten, was wir vorhatten, und flehten verzweifelt um ihr Leben. Wir verließen den Platz bis auf einen von uns, der bereit war, sie zu erschießen. Er mußte sechs Schüsse abgeben, ehe sie tot waren.
Es gibt viele solche Geschichten. Ich berichte nur von Ereignissen, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, aber Geschichten von anderen Soldaten gibt es übergenug. Ich hörte von Soldaten, die Leichenhaufen verbrannt haben.
Eines Morgens. sah ich Leichen auf einem Haufen, es war ein junges Mädchen darunter. Ein andermal flehte ein El Fatah Mann um sein Leben; als er sah, daß es sinnlos war, verfluchte er uns und bekam seine Kugeln. Eines Nachts überquerte eine Gruppe von ungefähr zwanzig den Fluß. Wir schossen auf sie. Am Morgen fanden wir elf Leichen. Einige wurden unverletzt in Verstecken aufgestöbert. Wir fingen sie ein und schickten sie unversehrt nach Jordanien zurück. Während meiner Dienstzeit, lange nach dem Krieg, schossen wir in unserem Abschnitt jede Nacht. Jede Nacht wurden Leute erschossen, jeden Morgen wurden die Verwundeten getötet. Auch solche, die wir unverletzt gefangennahmen.
Ich gebe diese Information in der Hoffnung weiter, daß sie möglichst vielen israelischen Bürgern bekannt wird. Vielleicht können einige auf diese Ereignisse Einfluß nehmen und sie stoppen."
Tel Aviv, 10. Sept. 1967
Kommentar von Prof. Helmut Spehl
Daß das Gemetzel am Jordan zumindest in politisch interessierten Kreisen der israelischen Bevölkerung bekannt geworden ist, zeigt der folgende Ausschnitt aus einem Artikel von Josef Hermoni in DAVAR, einer Tageszeitung, die den Arbeiterparteien nahesteht: "Ich erinnere den Leser, der auf das Image von der Reinheit der Waffen der Regierung der Arbeiterpartei vertraut, … an die brutale Art, mit der 1967 die Rückkehr von Flüchtlingen in die Westbank verhindert wurde." (DAVAR, 14. Juli 1982).