Warum unterstützten große Teile der deutschen Bevölkerung den Faschismus (Buchbesprechung)
Die Massenbasis
Warum unterstützten große Teile der deutschen Bevölkerung den Faschismus. Ein Buch Kurt Pätzolds aus dem Nachlass
Von Arnold Schölzel, junge Welt, 14.8.2017Kurt Pätzold: Gefolgschaft hinterm Hakenkreuz. Zwanzig Kapitel zu zwölf Jahren deutscher Geschichte. Verlag am Park, Berlin 2017, 360 S., 19,99 Euro
Der Historiker Kurt Pätzold starb am 18. August 2016 im Alter von 86 Jahren. Solange es seine Kräfte zuließen, arbeitete der Autor zahlreicher Monographie zum deutschen Faschismus und zum Zweiten Weltkrieg an weiteren Publikationen. Ende vergangenen Jahres erschien bereits »Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Geschichte und Geschichtsschreibung«, nun liegt »Gefolgschaft hinterm Hakenkreuz. Zwanzig Kapitel zu zwölf Jahren deutscher Geschichte« vor. Das Manuskript war Fragment geblieben. Pätzolds Freund und Koautor bei mehreren Werken, der Jenaer Historiker Manfred Weißbecker, hat es bearbeitet und zum Druck vorbereitet.
Der Text ist in drei Abschnitte gegliedert. Die ersten beiden enthalten 20 Kapitel, in denen Pätzold jene Faktoren untersucht, mit denen erklärt werden kann, welche Ursachen die anfängliche Zustimmung großer Teile der deutschen Wählerschaft zu Hitler und der NSDAP hatte, woher die relative Zufriedenheit mit dem Regime bis zum Kriegsbeginn 1939 rührte und warum schließlich die Mehrheit weitgehend widerstandslos »funktionierte«, als sich das katastrophale Ende abzeichnete. Im dritten Abschnitt führt Pätzold die so beleuchtete Frage nach der Massenbasis des deutschen Faschismus weiter und analysiert sie in allgemeiner Form, wobei Aussagen von Vertretern des Historischen Materialismus zur Rolle der Volksmassen in der Geschichte in den Vordergrund rücken: Sie betonten deren progressive Rolle und sagten zu der in der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 mit wenigen Ausnahmen nichts.
Hier wird leider der fragmentarische Charakter des Manuskripts besonders spürbar. Der Autor hatte vor, diesen Abschnitt bis in die Gegenwart zu führen. So bleibt es bei der allerdings an diesem Gegenstand paradigmatisch erforschbaren Frage nach dem Verhalten einer »Großgruppe« in der deutschen Bevölkerung zwischen 1933 und 1945: »Warum haben diese Millionen – Frauen und Männer, Alte und Junge – ein von Anbeginn verbrecherisches Regime gestützt, eine Politik ermöglicht und Pläne verwirklichen helfen, die über ihre nahen und fernen Nachbarn und schließlich auch über sie selbst Leiden und Sterben ohne Beispiel brachten?«
Pätzold zeigt, dass Behauptung nicht zutrifft, diese Menschen hätten »nach Errichtung der Nazimacht alle Möglichkeiten zu eigenen Entschlüssen und selbstbestimmten Handlungen verloren«. Wie groß die Zahl der Unterstützer des neuen Reichskabinetts unter Führung Hitlers am Tag seiner Installierung, dem 30. Januar 1933, war, lässt sich zwar nur vermuten. Wahrscheinlich, so Pätzold, waren es ungefähr jene 41 Prozent, die im November 1932 für die NSDAP und ihre späteren Koalitionspartner gestimmt hatten. Doch diese Zahlen sollten keine Rolle spielen, der Reichstag wurde aufgelöst und eine Neuwahl angesetzt, um den von Industrie, Banken, Reichswehr und höherem Personal des Staatsapparates mit der Ernennung Hitlers vollzogenen Staatsstreich zu legitimieren. An diesem Tatbestand lässt Pätzold keinen Zweifel. Allerdings wäre Hitler nicht eingesetzt worden, hätte er nicht seit etwa 1928 Millionen Anhänger gehabt. Sie machten ihn zu einem für die Bourgeoisie beachtenswerten politischen Faktor. Am 5. März 1933, als die Arbeiterparteien bereits verboten oder verfolgt waren, erhielt die NSDAP bei einer Wahlbeteiligung von 88,8 Prozent 17,3 Millionen Stimmen. Das entsprach knapp 44 Prozent und zeigte, so Pätzold, »den Sog an, der vom Sieg des 30. Januar ausging«. Das bestätigte, »dass ein Großteil der Menschen durch nichts so sicher zu bestechen ist wie durch den Erfolg«. Sie hätten nicht zu den Verlierern gehören wollen, nun habe »wirklich der Prozess des Wanderns hin zu den Nazis« begonnen.
Das war nicht nur der Ausgangspunkt, Ähnliches wiederholte sich. Hinzu traten Terror, Brot und Spiele, rassistische, über Jahrhunderte hinweg entstandene und gepflegte Ressentiments wie der Antisemitismus, aber auch Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der von der Wehrmacht überfallenen Länder und ihrer Bewohner oder gar Teilhabe an deren Ausplünderung. Pätzold untersucht diese Aspekte im einzelnen, um schließlich zu schildern, wie dieses Verhalten nach 1945 in Ost und West gedeutet wurde. Hartnäckig habe sich z. B. lange das Schema vom Führer und den Verführten gehalten. Erst spät sei auch in der Geschichtswissenschaft die Zeit zu Ende gegangen, in der ein einziger Faktor für die Massengefolgschaft verantwortlich gemacht wurde. Eine geschlossene Abhandlung über deren Entstehen bis hin zum Zerfall liege aber nicht vor.
Pätzold hat mit seinen Arbeiten zu Faschismus und Weltkrieg für die Erforschung dieses Problems bereits viel geleistet. Insofern nimmt sich dieses Buch wie ein Schlussstein seines Werks aus: Die Frage nach der Basis von Faschismus in großen Teilen einer Bevölkerung ist wieder akut. Kurt Pätzold zeigt in diesem Band, was empirisch und theoretisch zu berücksichtigen ist, wenn sie sinnvoll erforscht und beantwortet werden soll.