Wie mit Sprache Kriege verharmlost und Feindbilder geschaffen werden
Lüge und Demagogie
Wie mit Sprache Kriege verharmlost und Feindbilder geschaffen werden
Von Peter Urban (Junge Welt), 18. Dezember 2013
Heute wird in Frankfurt am Main der Schriftsteller, Übersetzer und Mitbegründer des Verlags der Autoren, Peter Urban, beigesetzt. Er starb am 9. Dezember 2013 im Alter von 72 Jahren (jW berichtete). Urban hat dem deutschen Leser unter anderem die Werke von Puschkin, Turgenjew, Gogol, Tschechow, Bunin, Charms, Dobytschin zugänglich gemacht. Im Jahr 2000 ist er mit dem »Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung« ausgezeichnet worden. Urbans Dankesrede, die wir an dieser Stelle leicht gekürzt dokumentieren, sorgte im Jahr eins nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien für einen Eklat. Die von ihm aufgeworfenen Fragen sind Thema der XIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar in Berlin (siehe Spalte).
Ich danke für einen Preis, dessen Name mir sympathisch ist, denn er ist ein Programm: als Akt der Verständigung habe ich mein Handwerk immer begriffen, seit mich 1964 die Belgrader Dichter Vasko Popa und Miodrag Pavlovic zum Übersetzer promovierten mit dem Satz: Du kannst nicht ein Jahr in Belgrad studieren, ohne etwas für die serbische Literatur getan zu haben. Damit fing es an, und im alten Jugoslawien habe ich auch gelernt, um wieviel besser das Bewußtsein der Völker in deren Literatur aufbewahrt ist als in der Geschichtsschreibung. Geschichte wird von den Siegern geschrieben, zu denen haben Dichter und Schriftsteller selten gehört, und die Zeiten, in denen mit Marc Aurel ein Philosoph auf dem Kaiserthron saß, sind unwiderruflich vorbei. (…)
Es ist so viel vom neuen Selbstbewußtsein der neuen Deutschen die Rede. Wie sieht dieses Selbstverständnis aus, worauf gründet es und wo sind seine Grenzen? Worauf gründet das Selbstbewußtsein jener jungen Bundeswehrsoldaten, die eine Autorin des Spiegel-Almanach 2000 beeindrucken durch »souveräne Lässigkeit« im Umgang mit der Geschichte: »Ob mein Großvater auf dem Balkan Greueltaten verübt hat, ist mir Banane«, sagt Fallschirmspringer Patrick Braun, 26, aus Wiesbaden, »ich bin hier die Friedensmacht.«
Ich gebe zu, mit diesem Knaben hätte ich Schwierigkeiten, mich zu verständigen. Ein Selbstbewußtsein, das immer die Gefahr der Selbstgerechtigkeit birgt und bereit ist zu töten, macht mir Angst. Mir wollen die Sätze des Soldaten nicht aus dem Sinn, der da, laut eben diesem Almanach gesagt haben soll: »Ich habe nicht getötet, weil ich es wollte, sondern weil ich mußte«, und hinzufügt, »und glatt getroffen. Wenn schon, denn schon.« Die Reporterin findet diese Auskunft »beeindruckend sachlich«, ich finde, ein mörderischer Stolz ist unüberhörbar.
Verstehen können
Verständigung mit uns selbst, geschweige denn mit anderen, ist ohne Erinnerung der eigenen Geschichte undenkbar. Sie setzt die Fähigkeit und Bereitschaft zu verstehen voraus, und beide beruhen auf Sprache, ein besseres Mittel der Verständigung haben wir nicht. Auf die Frage, ob wir einander überhaupt noch verstehen können, muß die Gegenfrage lauten: Wie verstehen wir eine Sprache, die einen Krieg nicht mehr »Krieg« nennt, sondern verharmlosend »Konflikt« oder gar bloß »Krise«? Wie verstehen wir einen Kanzler, der vor die Kameras tritt und behauptet, wir führten keinen Krieg?
Die NATO hat Krieg geführt, 78 Tage lang, 38004 »Feindflüge« entsprechen knapp 490 pro Tag; die NATO hat das internationale Recht gebrochen und Krieg geführt gegen einen souveränen Staat, Krieg im Namen einer zweifelhaften Moral, angeblich zum Schutz der Menschenrechte, Krieg gegen Milosevic, getroffen hat sie, wie schon mit ihren Sanktionen, die serbische Bevölkerung. Und wie wenig ein Krieg Probleme löst, sondern neue schafft, ist an dem Desaster im NATO-Protektorat Kosovo täglich zu besichtigen.
Dieser Krieg ist auch mit Sprache geführt worden, mit der Sprache der Lüge und Demagogie. Wie ist der Begriff »Friedensgespräche« zu verstehen, da in Rambouillet die eigentlichen Kontrahenten kein Wort miteinander gewechselt haben? Die CDU Hessens hat sich für die ungeheuerliche »jüdische Vermächtnis«-Lüge immerhin entschuldigt; aber hat man vom grünen Vizekanzler je auch nur ein Wort des Bedauerns gehört über dessen viel ungeheuerlicheres Diktum zur Rechtfertigung des Krieges, er habe gelernt: Nie wieder Krieg, aber auch nie wieder Auschwitz? (…)
Über den schändlichsten Begriff, den die NATO-Generäle hervorgebracht haben, die »Kollateralschäden«, ist das Nötige gesagt worden. Aber unsere öffentliche Sprache ist durchsetzt von Wörtern, die lügen, beschönigen, verzerren, verschleiern: »Luftschläge« klingen sauberer als Bombardement von Tabakfabriken und Chemiewerken, der »Zerfall Jugoslawiens« hört sich an wie etwas Unabwendbares, gleichsam ein Naturereignis, und macht vergessen, daß die Zerstückelung dieses Landes, zu dessen Gründung in zwei Weltkriegen viel Blut geflossen ist, nicht allein auf die nationalistische Politik Milosevics zurückgeführt werden kann, sondern systematisch betrieben worden ist, auch von uns. Große Teile der deutschen Presse, vor allem aber die Fernsehanstalten – in den Balkankriegen von Anfang an Teil der Kriegspropaganda – scheinen gar nicht mehr zu merken, wie sehr sie, um Peter Handke zu zitieren, einer »nackten, geilen Kriegsstimmung« aufgesessen sind.
Gesetzt den Fall, wir wollten verstehen, wie diese Stimmung herbeigeführt worden ist, es wäre ein leichtes. Es begönne mit der Feststellung, daß die ersten Flüchtlinge der Balkankriege Serben waren; daß Staaten wie Kroatien, wie Bosnien zur Verbreitung ihrer Propagandalügen amerikanische Werbeagenturen wie Ruder Finn engagieren, deren Chef James Haff das Ziel seiner Arbeit so beschreibt: »Unser Job ist es nicht, Informationen (auf ihren Wahrheitsgehalt) zu überprüfen … Unsere Aufgabe ist es, Informationen, die uns günstig erscheinen, schnell in Umlauf zu bringen und ein sorgsam ausgewähltes Ziel zu treffen.« Das amerikanische Englisch verwendet hierfür den feinsinnigen Neologismus »Krisenkommunikation«.
Gesetzt den Fall, wir wollten wirklich verstehen, wie wir über zehn Jahre Krieg auf dem Balkan belogen worden sind, es genügte ein Blick in Mira Behams vorzügliche Analyse »Kriegstrommeln. Medien, Krieg & Politik«. Mein Eindruck ist aber: wir wollen nicht. Wie versteht man den einhelligen Haß und die Häme, die Peter Handke entgegenschlugen, als er »Gerechtigkeit für Serbien« forderte? Einem Autor, der auf dem alten Grundsatz besteht: audiatur et altera pars und der wie kaum ein anderer weiß, wie man mit Wörtern und mit Bildern lügen kann? Einem Autor, der in einem seiner schönsten Romane, der »Wiederholung«, seine Trauer um Jugoslawien, die ich teile, so rückhaltlos offengelegt hat wie Wolfgang Hilbig seine Verzweiflung am zweigeteilten Deutschland? Allerdings hat Handke eine wesentliche Frage nicht vergessen, die er so beantwortet: »Der einzige Staat, der von der gegenwärtigen Lösung etwas hat, ist Deutschland. Deutschland hat jedes Interesse daran, daß es möglichst viele sklavenfähige Kleinstaaten gibt, ausgerichtet auf die Wirtschaftsmacht Deutschlands. Das wird immer klarer werden.« Schlagzeile im Wirtschaftsteil der FAZ vom 22. Januar 2000: »Vom Wiederaufbau im Kosovo profitieren. Neues Firmenbüro soll hessischen Unternehmen Einstieg auf dem Südwestbalkan erleichtern.« Im Aufbau blühender Landschaften haben wir Erfahrung.
Teile und herrsche
Deutsche Politik auf dem Balkan hat eine Konstante, die stets hinauslief auf den Grundsatz: divide et impera. Schon 1842 nannte Friedrich List den Balkan »unser Hinterland«; in Erinnerung ist der Kampfruf Kaiser Wilhelms: »Serbien muß sterbien«. Auch die Nazis haben Jugoslawien aufgeteilt an gebietshungrige Vasallen – um in Serbien besonders grausam zu wüten, das Massaker von Kragujevac steht für viele. Die Hamburger Wehrmachtsausstellung, mit dem gleichen Haß aufgenommen, wie Peter Handkes Einrede, hat mir zum Beispiel erklärt, warum: mit General Franz Böhme als Oberbefehlshaber in Serbien hat die Hitler-Administration nicht zufällig einen Österreicher eingesetzt; der hatte, wie Zitate belegen könnten, für die Schüsse von Sarajevo 1914 mit den Serben noch eine Rechnung offen. – Unserer Geschichte entrinnen wir nicht, sie folgt uns auf Schritt und Tritt, wo auch immer, und so »normal« wir uns auch geben oder fühlen mögen.
Unverständlich bleibt mir die Wut vor allem der Jüngeren auf Peter Handkes Einspruch. Woher kommt sie bei Leuten, die offenbar nie einen Blick in die Romane von Ivo Andric oder Danilo Kis geworfen haben, aus denen sie hätten lernen können? Was treibt Leute um, die keinen serbischen Namen buchstabieren, geschweige denn aussprechen können, aber eine abweichende, auf Kenntnis gegründete Meinung mit Hohn, mit Spott und Gemeinheiten überziehen? Woher der geradezu verbissene Wille, eine Politik gutzuheißen, die sich 1999 selbst für bankrott erklärt hat? Sind Altlinke und Jüngere, endlich beim Glauben angekommen? Oder ist es die alte, tiefverwurzelte Sehnsucht, endlich auf der Siegerseite zu stehen, nachdem die Welt im 20. Jahrhundert am deutschen Wesen zweimal nicht genesen wollte? (…)