Wieviel Staat steckt in der Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« ?
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Wolf Wetzel: Mit »Mandy« auf der Tupperparty, Junge Welt, 27.04.2015
Wieviel Staat in der Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« steckt, zeigt die ungewöhnliche Geschichte der V-Frau »Krokus«. Jetzt ist sie Thema im NSU-Untersuchungsausschuss des Stuttgarter Landtags
Die frühere V-Frau »Krokus« ist heute Thema im NSU-Untersuchungsausschuss des Landtages in Baden-Württemberg. Geladen sind u.a. die Neonazi-Frau Nelly Rühle, der V-Mann-Führer »Rainer Öttinger«, mit Klarnamen Oswald, und ein »G.K.Q. | Polizeipräsidium Aalen« – gemeint ist damit Kriminalhauptkommissar Gerhard Quendt.
Die Geschichte der V-Frau des baden-württembergischen Verfassungsschutzes mit dem Decknamen »Krokus« ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Sie wurde nicht im Rahmen eines Konzessionsangebots »angeworben«. Das ist die weitaus beliebteste Methode, Spitzel zu gewinnen. Man nutzt ein drohendes, laufendes Strafverfahren und bietet der betreffenden Person an, dieses einzustellen, wenn sie mit dem Verfassungsschutz zusammenarbeitet. Petra Senghaas wollte hingegen aus freien Stücken und aus Überzeugung etwas gegen Neonazis unternehmen. Anlass war ihre gute Freundin Sigrun H., die sich – zu Senghaas’ Ärger – mit dem NPD-Funktionär Matthias Brodbeck liiert hatte.
Besonders ist auch, dass die spätere V-Frau wirklich dachte, dass Polizei und Verfassungsschutz dazu da seien, Neonazismus und Rassismus zu bekämpfen. Wie es dazu kam, schildert sie so: »Ich kannte den damaligen Chef des Staatschutzdezernates in Schwäbisch Hall, KHK Gerhard Quendt, privat. Er kommt aus demselben Dorf wie mein Exmann. Ich kontaktierte ihn und fragte, ob ich mit ihm sprechen könne. Er bestellte mich in sein Büro. Nach einem kurzen Gespräch legte er mir verschiedene Lichtbilder von Matthias Brodbeck u. a. vor. Und erklärte mir, dass Matthias Brodbeck im Bereich der NPD-Heilbronn tätig sei. Wir vereinbarten, dass ich ein Auge darauf haben sollte. Nur kurze Zeit später lud er mich zu einem weiteren Treffen ein und fragte mich, ob ich Interesse hätte, mit einem guten Freund von ihm zu sprechen, der im Innenministerium arbeiten würde. Gerhard Quendt meinte, dass ich dafür sehr gut geeignet sei, da ich keinerlei Vorstrafen besitze – und direkten Zugang zu diesen Personen hätte. Ich stimmte zu. Der ›gute Freund‹ war Rainer Öttinger, er ist der Leiter der operativen Einheit des Landesamtes für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg.«
Für den Verfassungsschutz war sie von Sommer 2006 bis Anfang 2011 die »ideale Quelle«, denn sie war politisch nicht in die Neonaziszene rund um Schwäbisch Hall involviert, hatte aber über ihre Freundin »freien« Zutritt.
Als auch sie im November 2011 aus der Zeitung erfuhr, dass sich die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) zu verschiedenen Anschlägen bekannt hatte, und sie das Bild von Beate Zschäpe sah, wurde ihr schlagartig klar, dass ihre Informationen, die sie an ihren V-Mann-Führer Öttinger weitergegeben hatte, von erheblicher Bedeutung waren.
In einem Interview mit dem Autor führt sie dazu aus: »Ich war im Sommer 2006 zu einer Tupperparty eingeladen, und die gewisse Dame mit dem Namen Mandy war dort auch zu Besuch. Sie wurde mir von Sigrun als Bekannte von Matthias Brodbeck vorgestellt. Ich wusste zum damaligen Zeitpunkt nicht, dass es sich um Beate Zschäpe handelt. Erst nachdem sich Beate Zschäpe 2011 stellte, erkannte ich, dass es sich um ›Mandy‹ gehandelt hat. Ganz offensichtlich kannten sich alle auf der Tupperparty sehr gut. Fast jedes Wochenende fuhren sie zusammen nach Ludwigsburg.«
Auf die Frage: »Wie haben Ihre Vorgesetzten bzw. Quellenführer auf diese Nachrichten reagiert?« antwortet Senghaas: »Ich gab beim nächsten Treffen eine Beschreibung und ihren Namen Mandy weiter. Seltsamerweise kam nie eine Reaktion, egal was ich mitteilte. Ich sollte lediglich alles schriftlich verfassen. Alles andere entschiede das Amt.«
Die V-Frau »Krokus« berichtet auch, was sie nach dem Mordanschlag in Heilbronn 2007, bei dem die Polizistin Michèle Kiesewetter getötet wurde, mitbekommen hat: »Unmittelbar nach dem Mordanschlag erfuhr ich über Nelly Rühle, dass eine ihr bekannte Krankenschwester am damals geheim gehaltenen Unterbringungsort (Krankenhaus Ludwigsburg) den schwerverletzten Polizeibeamten ausspionierte. Man wollte herausbekommen, ob er sich nach dem Koma an irgend etwas erinnern könnte. Ich teilte Rainer Öttinger beim nächsten Treffen mit, dass sich Rechtsextreme, auf welche ich angesetzt war, dafür interessierten, was dieser Martin A. weiß. Öttinger schrieb alles auf und fuhr ins Landesamt für Verfassungsschutz zurück. Beim nächsten Treffen, zwei Wochen später, sprach ich Öttinger darauf nochmals an. Als Antwort bekam ich, dass ich mich aus dieser Sache herauszuhalten habe. Alles weitere wäre Sache der Polizei. Ich solle auf jeden Fall keinerlei Informationen an Dritte weitergeben, das wäre Geheimnisverrat.«
Dieses aggressive Desinteresse irritierte V-Frau »Krokus« schon damals. Nachdem sie erfahren hatte, dass dieser Mordanschlag dem NSU zugeordnet wurde, machte sie dies wütend. Sie wollte wissen, warum ihr Wissen unterschlagen und sie nicht als Zeugin vernommen wurde. Dann passsierte folgendes: »Am 3. Mai 2012 hatte ich von zwei Herren des LKA Stuttgart Besuch. (…) In diesem ›Gespräch‹ machten sich die beiden Beamten über meine Kenntnisse zu Nelly Rühle lustig. In gleicher Weise verfuhren sie mit dem Ausspähen des schwerverletzen Polizisten. Gleichzeitig machten sie mir klar, dass ich für fünf Jahre ins Gefängnis gehen würde wegen Geheimnisverrat, wenn ich jemals etwas anderes behaupten würde.«
Nur drei Tage nach dieser »Warnung« tauchten Neonazis am Schießstand in Langenburg auf, wo Petra Senghaas regelmäßig trainiert hatte: »Ich war gerade beim Abfeuern meiner ersten Schüsse, als die Tür im Schießstand aufging und drei Männer und eine Frau zur Tür hereinkamen. Matthias Brodbeck erkannte ich sofort. Ich war wie im Schock, feuerte meine weiteren drei Schüsse ab und verließ sofort den Schießstand. Ich rief vom Schützenverein aus den LKA-Beamten Hagdorn an und informierte ihn über den Vorfall. Dieser beschwichtigte mich und sagte, dass es jedem erlaubt sei, auf einen öffentlichen Schießstand zu gehen. Er lachte nur und meinte, ich sei einfach übersensibilisiert.«
Sie verstand das Auftreten der Neonazis als klare Drohung, die »Fürsorge« des LKA-Beamten ebenso. Aus Angst vor Neonazis und Verfassungsschutz floh sie 2012 nach Irland.
Als sie erfuhr, dass ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss auf Bundesebene eingerichtet wurde, nahm sie Kontakt mit diesem auf. Schließlich wollte sie die Version von Polizei und Geheimdienst nicht länger tatenlos hinnehmen, diese hätten 13 Jahre lang nichts von der rechten Terrortruppe gewusst bzw. wären ebenso lang im dunkeln getappt. Auch ihre Geschichte beweist das Gegenteil.
Ihre Hartnäckigkeit zahlte sich schließlich aus. Kurz vor dem terminierten Ende des Bundestagsuntersuchungsausschusses wurde der ›Fall Krokus‹ aufgenommen. Die Abgeordneten in Berlin forderten im April 2013 vom Verfassungsschutz in Baden-Württemberg die entsprechenden Akten an. Es folgte das, was fast überall zu beobachten war und ist: Ermittlungssabotage und eine Welle der Denunziation und Desinformation. Zuerst wollte man von einer V-Frau, die zur Aufklärung der Terror- und Mordserie des NSU sehr wohl hätte beitragen können, nichts wissen. Als man ihre Existenz nicht mehr verleugnen konnte, verschleppte man alles, so gut es ging. Die Stuttgarter Zeitung schrieb dazu am 27. Mai 2013: »Währenddessen erleben die Ausschussmitglieder in Berlin ihre zweite Überraschung: Das Innenministerium Baden-Württemberg gibt die Krokus-Akten nicht heraus. In der vergangenen Woche hat [der Untersuchungsausschussvorsitzende Sebastian – jW] Edathy den Innenminister Reinhold Gall (SPD) persönlich angemahnt, dem Beweisantrag endlich nachzukommen. Die Frist für die Nachreichung der Unterlagen ist an diesem Wochenende abgelaufen.«
Es kam zu einem Tauziehen zwischen Ausschuss in Berlin und dem Verfassungsschutz in Stuttgart zwecks vollständiger Herausgabe der V-Frau-Akten. Der NSU-Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy stellte ein Ultimatum. Schließlich wurden einige Akten an den Bundestag geschickt. Gleichzeitig lancierte man über willige Medien fortdauernd Denunziationen: Die V-Frau wisse gar nichts, sie sei unglaubwürdig, ihre Informationen »frei erfunden«, so Verfassungsschutzpräsidentin Beate Bube im Jahr 2013. In den Akten wird die V-Frau dagegen als »geborene Quelle« gepriesen: »Sie ist zuverlässig, verschwiegen und überaus einsatzwillig …« (»Die Spur des ›Krokus‹«, in: Spiegel online vom 13. Juni 2013)
Die Glaubwürdigkeit ihrer Informationen wurde mit »B« eingestuft – das ist die zweitbeste Bewertung.
Die schützende Hand
Dokumentiert. Der in Stuttgart lebende Autor Wolfgang Schorlau greift in seinem neuen, im Herbst erscheinenden Krimi »Die schützende Hand« das Thema NSU und braunes Netzwerk aus Verfassungsschützern und Neonazis auf. In der Stuttgarter Zeitung (12. April 2015) schilderte der Schriftsteller sein Herangehen:
(…) Je mehr ich mich mit dem NSU-Komplex beschäftigte, (…) desto öfter fragte ich mich, in was für einem Land ich eigentlich lebe. (…) Während ich diese Zeilen schreibe, erreicht mich die Meldung, dass es im Kontext des NSU-Komplexes ein weiteres Todesopfer gegeben hat: die Exfreundin von Florian H. Blicken wir noch einmal zurück: Zwei Zeugen, der V-Mann Corelli und Florian H., beide aussagewillig, starben, bevor sie vernommen werden konnten. Corelli an einer »unerkannten Diabetes« (?) im Zeugenschutzprogramm; H., der behauptete, er wisse, wer Michèle Kiesewetter wirklich umgebracht hat, verbrannte bei lebendigem Leib. Und auch hier findet man wieder die merkwürdigsten Widersprüche. Florian H., soll sich – so der Staatsanwalt – aus Liebeskummer selbst angezündet haben. Erstaunlich nur, dass er gerade auf dem Weg zu seiner Zeugenaussage war. Was, so frage ich mich, ist das Motiv des ermittelnden Staatsanwalts, Selbstmord aus Liebeskummer festzustellen, bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren?
Und nun stirbt die ehemalige Freundin von Florian H. »an einer Lungenembolie«, jene junge Frau, die vor einigen Tagen vor dem Untersuchungsausschuss ausgesagt hat; in nicht-öffentlicher Sitzung, weil sie sich bedroht sah. Ich lese eben, dass durch die Obduktion keine Fremdeinwirkung nachgewiesen werden konnte. (…) Und die Stuttgarter Zeitung führt in diesem Zusammenhang einen weiteren Toten auf: der damals 18jährige Arthur C. starb 2009 neben seinem ausgebrannten Auto zwischen Eberstadt und Cleversulzbach nahe Heilbronn den Flammentod. Das Sterben hört mit dem Ableben von Mundlos und Böhnhardt nicht auf. Trügt mein Eindruck, hier räume jemand hinter dem NSU weiter auf? Die Botschaft ist leicht zu entziffern: Wer reden will, stirbt einen harten Tod. Ist das der Grund, warum Beate Zschäpe im Münchner Prozess so hartnäckig schweigt?
Journalisten und Autoren, die durch ihre Berichterstattung diese und viele weitere Widersprüche sichtbar machen, ist entgegengehalten worden, sie verfassten »Verschwörungstheorien«. Doch gegenüber dem, was allein der baden-württembergische NSU-Untersuchungsausschuss seit seiner Gründung im November 2014 zu Tage gefördert hat, ist der feuchteste Traum eines Verschwörungstheoretikers harmlos. Eher ist es so, wie Stefan Aust kürzlich vor diesem Untersuchungsausschuss sagte: Die einzige Verschwörungstheorie im NSU-Komplex ist die behauptete Unfähigkeit der Sicherheitsbehörden.
kurzlink.de/StZ-Schorlau