Wo wohnt die Demokratie?
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.06.2011, Nr. 24 / Seite 11
Wo wohnt die Demokratie?
Über das Budget entscheidet die EU, über Bauprojekte der Volkswillen, über Energie eine Kommission. Der Bundestag wird entmachtet
Von Dietrich Austermann
Die Bedeutung der nationalen Parlamente wird in den nächsten Jahren weiter dramatisch abnehmen. In den Gremien, vor allem in denen des Bundestages, wird zwar immer hektischer gearbeitet, aber die Zuständigkeit für verantwortliche, staatsgestaltende Entscheidungen geht zurück. Drei Kräfte wirken in diese Richtung: erstens die EU, die ihre Zuständigkeit bis in das kleinste Dorf ausweitet und ihre gesetzähnlichen Richtlinien zum “Nachvollzug” an die Parlamente sendet; zweitens die teilweise zu beobachtende Medienhybris, die sich im Verbund mit der sogenannten Zivilgesellschaft sieht; und drittens die Kommissionitis.
Die europäischen Gerichte belehren die nationalen Abgeordneten, die als Wahrer des Grundgesetzes berufen sind, in einer Weise, die von den Bürgern kaum noch nachvollzogen werden kann. Immerhin bewähren sich die deutschen Grundrechte seit mehr als 60 Jahren. Durch die EU werden Länder verpflichtet, auch im Flachland Seilbahngesetze zu beschließen und im Bergland Sportboot-Vorschriften. Richtlinien, also vom nationalen Gesetzgeber umzusetzende EU-Vorschriften, regeln Kosmetika, Ökodesign, sinnlose Umweltzonen, die Etikettierung von Elektrobacköfen und wie Arbeitsmittel zu benutzen sind. Europa regelt von der Glühbirne bis zum Feuchtbiotop den Alltag im deutschen Dorf, und dies bei einer schwachen demokratischen Legitimation. Der Bürger wendet sich ab.
Für Bürgerfrust muss auch die Euro-Rettungspolitik sorgen, die die wichtigste Entscheidung der nationalen Parlamente aushebelt: die Budgetentscheidung. Oder wie soll man es sonst nennen, wenn die EU sich darauf verständigt, unser Land für Generationen finanziell in einem Umfang zu binden, der das Fünffache des jährlichen Investitionshaushaltes des Bundes ausmacht? Nachhaltig und generationengerecht ist das jedenfalls nicht. Quasi unter Punkt “Verschiedenes” handelt der Haushaltsausschuss des Bundestages die jeweiligen EU-Vorlagen ab. In einer Parlamentsvorlage heißt es: Nach Abschluss der Regierungsverhandlungen werden wir in nationalen Umsetzungsgesetzen festlegen, in welcher Form der Deutsche Bundestag an den einzelnen Entscheidungen zum Europäischen Stabilitätsmechanismus beteiligt wird. Den Parlamentariern bleibt nur das Abnicken. Wie in den neunziger Jahren bei der Einführung des Euro.
Die Einflussnahme der “mediengeleiteten” sogenannten Zivilgesellschaft ist ähnlich gefährlich für die repräsentative Demokratie. Die öffentliche Darstellung der Notwendigkeiten lässt es immer mehr zu, dass ein Gegensatz konstruiert wird zwischen der aktuellen Meinung und Einsicht der Bürger und den Organen eines Staates, der gewissermaßen auf der anderen Seite steht. In der “bürgerlichen Gesellschaft” ist für die Abgeordneten kein Platz mehr, weil sie Teil “des Staates” sind, der den Bürgern fremd ist. Ob Kernenergie, Stuttgart 21 oder Einsätze der Bundeswehr im Ausland: Die Spontandemo, die letzte Talkshow, eifernde Medienvertreter oder die aktuelle Umfrage entscheiden gegen den mutlosen Parlamentarier, der dies zulässt. Dabei hat das Grundgesetz sich aus gutem Grund von der Verfassung Weimars und den darin vorgesehenen Volksentscheiden abgewendet. Der Staat sind wir alle, und für uns alle ist der Bundestag da!
Die repräsentative Demokratie mit Abgeordneten aus dem Volk mit gesundem Menschenverstand, die im Wahlkreis in ihrem bürgerlichen Lebensumfeld, politisch in ihrer Partei, vor allem im Kreisverband verwurzelt sind, die von Stimmungseinflüssen und situativen Befragungen unabhängig ein Urteil bilden: diese Demokratie scheint auf dem Rückzug zu sein. Ihre Bestandskraft ist gefährdet.
Kein gutes Zeugnis für die Bürger? Aber wer fragt schon die, die sich in immer größerer Zahl der Wahl enthalten (siehe Bremen, da hilft auch die Herabsetzung des Wahlalters nichts), weil ihnen die Ergebnisse fehlen und die ihnen vertraute Richtung? Wo wird, außer in Talkshows, noch politisch kontrovers diskutiert? Warum wird das Thema Energie nicht auf die Tagesordnung von Parteitagen gesetzt wie im vergangenen Jahr, als es um längere Laufzeiten für die Kernkraftwerke ging? Warum können/müssen nicht das Fukushima-Desaster und etwaige Parallelen und Alternativen zur Kernenergie dort breit diskutiert werden? Was sollen Entscheidungen in kürzester Zeit, als wäre die parlamentarische Demokratie auf der Flucht?
In Stuttgart wurde die Straße gegen ein 15 Jahre lang unter erheblicher öffentlicher Beteiligung geplantes Projekt von denen mobilisiert, die im demokratischen Verfahren in den Parlamenten im Südwesten unterlegen waren. Jetzt wird, weil die Straße sich beim Wahlergebnis nun doch nicht durchgesetzt hat, über niedrigere Hürden für Volksbefragungen diskutiert. Wenn die verhindernde Minderheit in der “Zivilgesellschaft” zu klein ist, “muss” sie gegen die Zweidrittelmehrheit des neu gewählten Stuttgarter Parlaments (CDU, SPD, FDP) das Recht bekommen, einen Weg zur Ablehnung des Milliardenprojekts zu finden. Wird der Bürgerwille durch 15, 20 oder 25 Prozent repräsentiert? Oder durch die Mehrheit der Gewählten, die Gemeinnutz über Eigennutz stellen?
Soll sich künftig das Parlament darauf beschränken, die EU-Entscheidungen zu bestätigen und die “wichtigen” Fragen der nächsten Demo zu überlassen?
In Nordfriesland haben Demonstranten die Landesregierung gezwungen, eine unterirdische Entsorgung von CO2 aus notwendigen neuen, umweltfreundlicheren Kohlekraftwerken zu unterlassen. (Dabei hat die Erkenntnis, dass CO2 unter der Erde seit Hunderten von Millionen Jahren für die Menschheit unschädlich lagert, keine Rolle gespielt.) Die Landesregierung hat wiederum den Bund in die gleiche Richtung gedrängt. Ob die nordfriesischen Initiatoren dabei bedacht haben, dass Klimawandel höhere Meeresspiegel und brechende Deiche bedeuten kann?
Es war politisch richtig, dass Bundeskanzlerin Merkel nach Fukushima ein Moratorium für die Nutzung der Kernenergie verkündet und neue Sicherheitsprüfungen veranlasst hat, auch wenn sie damit die einzige Regierungschefin weltweit war. Aber es ist falsch, sich jetzt in die Tasche zu lügen und durch enge Fristen und neue Kommissionen den Eindruck zu erwecken, die Energieprobleme seien ohne die großen Energieversorger, ohne den bewährten Mix, lösbar. Zuwachs bei der Zustimmung der Wähler scheint dieser Umschwung ohnehin nicht zu bringen, eher Verunsicherung der eigenen Anhänger.
Wenn alle Hochspannungsleitungen und alle möglichen Windmühlen errichtet sind, alle Dächer Solarkollektoren haben, alle Biogasanlagen aus Monokulturen gespeichert sind, werden auch in Zukunft der wirtschaftliche Wohlstand in Deutschland und die Industrieproduktion nicht fortbestehen können, ohne dass große Kraftwerke die Grundlast der Stromversorgung tragen. Windstrom braucht ständig verfügbaren Basisstrom. Funktionierende Speicher gibt es noch nicht einmal im Konzept.
Das Thema Ausstieg aus der Kernenergie eignet sich, obwohl jeder eine Meinung dazu hat, nur bedingt für eine Volksabstimmung, weil keine Ja/Nein-Frage formuliert werden kann. Wer will denn behaupten, dass die Mehrheit immer noch für den überstürzten Ausstieg plädiert, wenn die Alternative lautet, mehr Hochspannungsleitungen, mehr Landschaftsbeeinträchtigung, mehr Stromimport von ausländischen (sichereren?) Kernkraftwerken, mehr Verlagerung von Arbeit ins Ausland und weniger Klimaschutz dank mehr CO2, schließlich drastisch höhere Stromkosten?
Die sogenannte Ethikkommission, übrigens eine andere als diejenige, die sich zur Präimplantationsdiagnostik geäußert hat, empfiehlt, 2021 mit der Kernkraft in Deutschland Schluss zu machen. Warum ist das ethisch? Ist es nicht vielmehr moralische Pflicht, 2019 oder gar schon 2012 Schluss zu machen? Dürfen wir bis dahin die großen “unethischen” Kraftwerke nutzen? Wo liegt eigentlich die demokratische Legitimation einer Kommission? Wer hat deren Mitglieder gewählt? Sind die Ausgewählten besser geeignet, moralisch Vertretbares zu definieren? Geben sie die “richtige” Antwort auf die Frage: “Was sollen wir tun?” Was hätten sie zu einem Libyen-Einsatz gesagt? Warum wurden sie da nicht gefragt?
Die Abgeordneten sollen jetzt Kommissionsentscheidungen nachvollziehen, sich “ethisch” verhalten. Auch das soll “alternativlos” sein. Wie die möglichen Milliardenentschädigungen an die Stromkonzerne. Die Energieversorger müssen sofort Strom in der Tschechischen Republik bestellen und 7+1 Kernkraftwerke im Land abschalten, weil “3×3” (neun Kernkraftwerke verbleiben bis 2021) die neue “Erfolgsformel” ist. Biblis ist tsunamigefährdet, Krümmel von Erdbeben bedroht, Brunsbüttel “nur” gegen Starfighter geschützt.
Kann eine Energieversorgung, die über Jahrzehnte aufgebaut wurde, innerhalb von drei Monaten technologisch umgestaltet werden? Nur wenn man auf die Straße hört, auf die Kommissionen und die “sozialen Bewegungen”. Nicht wenn man auf die wirtschaftliche und ökologische Vernunft hört, auf die Erfahrung, Gelassenheit und Verantwortung repräsentativ tätiger Vertreter des Volkes für künftige Generationen. Die Abgeordneten brauchen Zeit für Diskussion und nicht Druck.
Der Autor ist ehemaliger Minister für Wirtschaft, Wissenschaft und Verkehr des Landes Schleswig-Holstein (CDU).