Zum NATO-Gipfel räsoniert ein US-Analyst über die Bedeutung des Militärpakts für Washington
http://www.jungewelt.de/2012/05-18/053.php
18.05.2012
Billighegemonie
Schneewittchen und die 27 Zwerge: Zum NATO-Gipfel räsoniert ein US-Analyst über die Bedeutung des Militärpakts für Washington
Von Rainer Rupp
Chicago am Mittwoch: Polizei hindert Anti-NATO-Demonstranten, ein Camp aufzubauen
Foto: Reuters
Rechtzeitig vor Beginn des NATO-Gipfels in Chicago am 20./21. Mai hat der private US-Nachrichtendienst Stratfor, der für Großunternehmen, aber auch Regierungsstellen tätig ist, eine kritische Analyse zur Zukunft des in allen Fugen ächzenden Militärpakts veröffentlicht: »NATO’s Ordinary Future.« Wie das Internetportal Wikileaks unlängst enthüllt hat, liest sich die Liste der »Freizeit«-Mitarbeiter von Stratfor wie das »Who is who« leitender Beamter und Angestellter diverser Geheimdienste und Verteidigungsministerien der NATO-Länder. Verfaßt wurde die aktuelle NATO-Analyse von Robert D. Kaplan, einem über die Grenzen der USA hinaus bekannten, »liberalen Falken«, was auf deutsche Verhältnisse übertragen soviel bedeutet wie ein der SPD oder den Grünen nahestehender Kriegstreiber.
Kaplan wertet die Details der Li byen-Intervention als »schlechte Reklame für die NATO«. Dazu zitiert er einen Planer der US-Luftwaffe, der den NATO-Angriffskrieg als eine Operation von »Schneewittchen und den siebenundzwanzig Zwergen« bezeichnete. Schneewittchen (die USA) hätten – angetrieben von den Zwergenführern Großbritannien und Frankreich – den allergrößten Teil der Arbeit erledigt. Darüber könne auch das schnell erfundene, »diplomatische Feigenblatt« der sogenannten »US-Führung von hinten« nicht hinweg täuschen, die das Ganze wie eine europäische Operation aussehen lassen sollte. Obwohl die meisten Kampfeinsätze von britischen und französischen Kampfjets geflogen worden seien, hätten die NATO-Zwerge ohne die umfassende logistische und technische Hilfe der USA den Krieg gegen Tripolis überhaupt nicht führen können, heißt es in dem Stratfor-Papier (siehe Spalte). Um dies zu untermauern, zitiert der Autor einen US-General mit den Worten: »Militärisch ist Europa tot.« Dennoch warnt Kaplan seine US-amerikanischen Landsleute vor voreiligen Schlüssen, denn die NATO habe für Washington »ihren Nutzen längst nicht verloren«.
Die Schwächung der Europäischen Union durch die Schuldenkrise habe vielmehr die Bedeutung der NATO als stabilisierenden Faktor in Europa, besonders in Osteuropa, erneut hervorgehoben. Sie sei wieder »so wichtig wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit dem Fall der Berliner Mauer«, so Kaplan. Für die ehemaligen sozialistischen Staaten in Osteuropa sei »die NATO so etwas wie ein Gütesiegel, um ausländische Investitionen anzuziehen«, und zugleich schrecke sie Rußland davon ab, diese Staaten »zu destabilisieren«, denn Moskau werde »nie sein Ziel aufgeben«, sich durch einen Cordon von ihm freundlich gesinnte Ländern vor dem Westen zu schützen. Daher definiert Kaplan die NATO als einen »gegen die russischen Pläne gerichteten, politischen, diplomatischen und militärischen Mechanismus« und schlußfolgert daraus: »Je größer die Auswirkungen der EU-Schuldenkrise, desto relevanter wird die NATO wieder.«
Allerdings soll die NATO nicht nur Rußland davor abschrecken, die verarmten osteuropäischen Länder mit dem Angebot billiger und garantierter Energielieferungen wieder in seinen Einflußkreis zu ziehen, sondern auch »Deutschland an einer zukünftigen, geostrategischen Richtungsänderung hindern«. Die Berliner Pläne für eine strategische Partnerschaft mit Moskau scheinen Washington schwer im Magen zu liegen, und nur die NATO kann das verhindern: »Solange die NATO existiert, wird die Wahrscheinlichkeit, daß Deutschland in der Zukunft eine Allianz mit Rußland eingeht, gering bleiben«, schreibt Kaplan weiter.
Weiter führt er aus, daß die NATO auch in anderen Bereichen für Washington immer noch von Nutzen ist, z.B. indem sie »ebenso wie die UNO diversen US-Aktionen immer wieder diplomatische Deckung gibt«, zumal sich »bei humanitären Noteinsätzen sogar die europäische Bevölkerung wohlfühlt«. Daher sei »die NATO für Rettungsaktionen mit Luft- und Seestreitkräften in Afrika und darüber hinaus ideal geeignet«. Auch könne nicht ausgeschlossen werden, daß »ein dynamischeres Rußland, ein chaotischeres Nordafrika und ein von Unruhen und Unterentwicklung weiterhin geplagter Balkan Europa in Zukunft zu schaffen machen«. Gegen diese Entwicklung bietet Kaplan die US-geführte NATO »als Instrument für den politischen Zusammenhalt in Europa« an. Zugleich unterstreicht er gegenüber den NATO-Skeptikern in den Vereinigten Staaten, daß »die USA die NATO brauchen, um bei der Organisation der Verteidigung Europas zu helfen, damit Washington sich besser auf den Mittleren Osten und Asien konzentrieren kann«. Für die USA bedeute das: »NATO is American hegemony on the cheap – Die NATO steht für amerikanische Hegemonie zu geringen Kosten.«
Schneewittchen und die 27 Zwerge: Zum NATO-Gipfel räsoniert ein US-Analyst über die Bedeutung des Militärpakts für Washington
Von Rainer Rupp
Chicago am Mittwoch: Polizei hindert Anti-NATO-Demonstranten, ein Camp aufzubauen
Foto: Reuters
Rechtzeitig vor Beginn des NATO-Gipfels in Chicago am 20./21. Mai hat der private US-Nachrichtendienst Stratfor, der für Großunternehmen, aber auch Regierungsstellen tätig ist, eine kritische Analyse zur Zukunft des in allen Fugen ächzenden Militärpakts veröffentlicht: »NATO’s Ordinary Future.« Wie das Internetportal Wikileaks unlängst enthüllt hat, liest sich die Liste der »Freizeit«-Mitarbeiter von Stratfor wie das »Who is who« leitender Beamter und Angestellter diverser Geheimdienste und Verteidigungsministerien der NATO-Länder. Verfaßt wurde die aktuelle NATO-Analyse von Robert D. Kaplan, einem über die Grenzen der USA hinaus bekannten, »liberalen Falken«, was auf deutsche Verhältnisse übertragen soviel bedeutet wie ein der SPD oder den Grünen nahestehender Kriegstreiber.
Kaplan wertet die Details der Li byen-Intervention als »schlechte Reklame für die NATO«. Dazu zitiert er einen Planer der US-Luftwaffe, der den NATO-Angriffskrieg als eine Operation von »Schneewittchen und den siebenundzwanzig Zwergen« bezeichnete. Schneewittchen (die USA) hätten – angetrieben von den Zwergenführern Großbritannien und Frankreich – den allergrößten Teil der Arbeit erledigt. Darüber könne auch das schnell erfundene, »diplomatische Feigenblatt« der sogenannten »US-Führung von hinten« nicht hinweg täuschen, die das Ganze wie eine europäische Operation aussehen lassen sollte. Obwohl die meisten Kampfeinsätze von britischen und französischen Kampfjets geflogen worden seien, hätten die NATO-Zwerge ohne die umfassende logistische und technische Hilfe der USA den Krieg gegen Tripolis überhaupt nicht führen können, heißt es in dem Stratfor-Papier (siehe Spalte). Um dies zu untermauern, zitiert der Autor einen US-General mit den Worten: »Militärisch ist Europa tot.« Dennoch warnt Kaplan seine US-amerikanischen Landsleute vor voreiligen Schlüssen, denn die NATO habe für Washington »ihren Nutzen längst nicht verloren«.
Die Schwächung der Europäischen Union durch die Schuldenkrise habe vielmehr die Bedeutung der NATO als stabilisierenden Faktor in Europa, besonders in Osteuropa, erneut hervorgehoben. Sie sei wieder »so wichtig wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit dem Fall der Berliner Mauer«, so Kaplan. Für die ehemaligen sozialistischen Staaten in Osteuropa sei »die NATO so etwas wie ein Gütesiegel, um ausländische Investitionen anzuziehen«, und zugleich schrecke sie Rußland davon ab, diese Staaten »zu destabilisieren«, denn Moskau werde »nie sein Ziel aufgeben«, sich durch einen Cordon von ihm freundlich gesinnte Ländern vor dem Westen zu schützen. Daher definiert Kaplan die NATO als einen »gegen die russischen Pläne gerichteten, politischen, diplomatischen und militärischen Mechanismus« und schlußfolgert daraus: »Je größer die Auswirkungen der EU-Schuldenkrise, desto relevanter wird die NATO wieder.«
Allerdings soll die NATO nicht nur Rußland davor abschrecken, die verarmten osteuropäischen Länder mit dem Angebot billiger und garantierter Energielieferungen wieder in seinen Einflußkreis zu ziehen, sondern auch »Deutschland an einer zukünftigen, geostrategischen Richtungsänderung hindern«. Die Berliner Pläne für eine strategische Partnerschaft mit Moskau scheinen Washington schwer im Magen zu liegen, und nur die NATO kann das verhindern: »Solange die NATO existiert, wird die Wahrscheinlichkeit, daß Deutschland in der Zukunft eine Allianz mit Rußland eingeht, gering bleiben«, schreibt Kaplan weiter.
Weiter führt er aus, daß die NATO auch in anderen Bereichen für Washington immer noch von Nutzen ist, z.B. indem sie »ebenso wie die UNO diversen US-Aktionen immer wieder diplomatische Deckung gibt«, zumal sich »bei humanitären Noteinsätzen sogar die europäische Bevölkerung wohlfühlt«. Daher sei »die NATO für Rettungsaktionen mit Luft- und Seestreitkräften in Afrika und darüber hinaus ideal geeignet«. Auch könne nicht ausgeschlossen werden, daß »ein dynamischeres Rußland, ein chaotischeres Nordafrika und ein von Unruhen und Unterentwicklung weiterhin geplagter Balkan Europa in Zukunft zu schaffen machen«. Gegen diese Entwicklung bietet Kaplan die US-geführte NATO »als Instrument für den politischen Zusammenhalt in Europa« an. Zugleich unterstreicht er gegenüber den NATO-Skeptikern in den Vereinigten Staaten, daß »die USA die NATO brauchen, um bei der Organisation der Verteidigung Europas zu helfen, damit Washington sich besser auf den Mittleren Osten und Asien konzentrieren kann«. Für die USA bedeute das: »NATO is American hegemony on the cheap – Die NATO steht für amerikanische Hegemonie zu geringen Kosten.«