Totalitäre Züge in deutschen Medien: Das Mobbing von Günter Grass
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05.04.2012 / Ansichten / Seite 8Inhalt
Neo-Totalitarismus
Kesseltreiben gegen Günter Grass
Von Werner Pirker
Günter Grass hat das Unglaubliche gewagt. Er hat die israelische Politik gegenüber dem Iran einer scharfen Kritik unterzogen. In Gedichtform machte der Schriftsteller Israel den Vorwurf, »alles vernichtende Sprengköpfe« auf den Iran zu richten. »Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag«, schreibt er, »der das iranische Volks auslöschen könnte«.
Das Imperium der veröffentlichten Meinung schlug umgehend zurück. Als federführend erwies sich einmal mehr Henryk M. Broder, der in einem Beitrag für Die Welt Günter Grass als »Prototyp des intelligenten Antisemiten«, der immer schon »ein Problem« mit Juden gehabt habe, bezeichnete. Die vom Haßprediger der Nation wie selbstverständlich vorgenommene Gleichsetzung von Israel-Kritik und Antisemitismus findet sich auch in einer Stellungnahme auf der Homepage der israelischen Botschaft, in der das Grass-Gedicht in eine Traditionslinie mit christlichen Ritualmordvorwürfen an Juden gestellt wird. Mit der grob tatsachenwidrigen Behauptung seines Vorsitzenden Dieter Graumann, daß Grass die Tatsachen verdrehe, weil nämlich der Iran und nicht Israel den Frieden gefährde, machte der Zentralrat der Juden seinen Ruf, eine Außenstelle des zionistischen Staates in Deutschland zu sein, ein weiteres Mal alle Ehre.
Die Position »antideutscher« Knallköpfe, daß jede Kritik an Israel per se antisemitisch sei, wird mehr und mehr diskursbeherrschend. Daß Grass seine Israel-Kritik von einer proisraelischen Position aus vorträgt – er spricht von Israel als »dem Land, dem ich verbunden bin und bleiben will« – schützt ihn nicht vor dem Vorwurf, ein, wenn auch »intelligenter, Antisemit« zu sein. Da der jüdische Staat alle von ihm ausgehenden Aggressionshandlungen mit seinem Recht auf Selbstverteidigung begründet, wird jede Kritik daran als Infragestellung seines Existenzrechtes bewertet.
Die Heftigkeit der Reaktionen auf das die Gefahr eines Krieges beschwörende Grass-Gedicht zeigt, wie nahe der Krieg bereits herangerückt ist. Das Vorhaben der Wertegemeinschaft, einen Regimewechsel in Teheran zu erzwingen, duldet keinen Defätismus an der Heimatfront. Zum Kriegführen bedarf es auch eines intakten Feindbildes. »Das Land, das uns Sorgen bereitet, ist der Iran. Davon lenkt sein Gedicht ab«, machte CDU-Mann Rupert Polanz klar, daß sich deutsche Dichtkunst der deutschen Staatsräson unterzuordnen habe.
Die Hysterie um den Grass-Text zeigt aber auch, wie schlecht es um die Meinungsfreiheit bereits bestellt ist. Die synonyme Verwendung der Begriffe Antizionismus und Antisemitismus gilt längst als common sense. Günter Grass ist weit davon entfernt, ein Antizionist zu sein. Allein das Aussprechen der simplen Tatsache, daß die Atommacht Israel den Iran bedroht und nicht umgekehrt, gilt aber bereits als nicht mehr hinnehmbare Meinungsäußerung. Die neoliberale Hegemonie nimmt zunehmend totalitäre Züge an.